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Das Misox, seine Autobahn, seine Scheinfirmen

Misox
Eine Firma auf fünf Personen: Das Bündner Tal, hier ein Bild von Roveredo, zählt 1600 Firmen auf 8300 Einwohner. Keystone

Ein Bündner Tal, das sich eher wegen des Nord-Süd-Verkehrs oder seinen Kastanienbäumen als wegen seiner Treuhand-Gesellschaften einen Namen gemacht hat, ist auf dem besten Weg, sich einen Ruf in der grossen Welt der Wirtschaftskriminalität zu schaffen. Übernimmt die Südseite der Alpen die Rolle der Kaiman- oder der Britischen Jungfern-Inseln?


Steuerparadiese nisten sich gerne an überraschenden Orten ein. Ein bescheidenes Kalkstein-Riff, das sich aus dem warmen karibischen Meer unter dem Namen Kaiman-Inseln erhebt, ist der globale Hauptort für Hedge-Fonds und andere Körperschaften der Schattenfinanz geworden. Ein bescheidener Archipel, der sich aus dem gleichen Meer erhebt, ist unter dem Namen Britische Jungferninseln zum Weltzentrum der Briefkastenfirmen geworden. Inzwischen ist ein bescheidenes Bündner Tal auf dem Weg, Hauptort von Scheinfirmen zweifelhafter Herkunft zu werden.

Das Misox hat kürzlich eine unerwartete SeiteExterner Link von sich offengelegt. Bekannt war das Tal bisher, weil es auf der Nord-Süd-Achse des San Bernardinos an der Tür zum Tessin liegt. Inzwischen beherbergt es rund 1600 Firmen, aber nur 8300 Einwohner, also ein Unternehmen auf fünf Personen. Allein im Dorf Grono mit seinen tausend Einwohnern gibt es fast halb so viele Firmen. Ein Husarenstück für eine Landwirtschaftsregion, die mehr und mehr Peripherie von Bellinzona geworden ist.

Die Situation sei die Folge einer Verschärfung der Tessiner Praktiken in Bezug auf die Identifizierung von Objekten und Adressen, antwortete die Regierung auf die Frage eines Parlamentariers des Grossen Rats. Die schärferen Massnahmen des Nachbarkantons führten offenbar dazu, dass sich mehr als 300 dieser Gesellschaften jenseits der Kantonsgrenze niederliessen.

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Hat Chur die Dimension des Problems erkannt?

Die Niederlassung von 300 Scheinfirmen macht das Tal bei weitem noch nicht zum Offshore-Finanzzentrum. Aber es genügt, den Zorn des berühmten ehemaligen Tessiner Untersuchungsrichters Paolo Bernasconi hervorzurufen, der die Entwicklung sehr skeptisch verfolgt. Er verdächtigt die Firmen der Geldwäscherei im Auftrag der italienischen Mafia. Für den Mann des Rechts würde es genügen, wenn die Bündner Behörden ihre Kontrollen verschärften. Sie könnten zum Beispiel lediglich verlangen, dass das Handelsregister die Identität der Unterschriften und Adressen dieser Firmen systematisch verifiziert. Dies könnte verhindern, dass friedliche Bergdörfer mit klingenden Namen wie San Vittore zum Schauplatz der Wirtschaftskriminalität werden.

Hat man im Kantonshauptort Chur, weit entfernt von den Scheinfirmen in Roveredo, die Dimension des Problems wirklich erfasst? Die Bündner Regierung hat das Problem eben erst erkannt. Nicht im Zusammenhang mit der internationalen Wirtschaftskriminalität, sondern weil die Situation aufgrund betrügerischer Konkurse, welche diese lasche Praxis ermöglichte, Kosten für die AHV verursacht.

Die Schweiz hat in den letzten dreissig Jahren immer schärfere Massnahmen zur Bekämpfung der Geldwäscherei ergriffen. Aber der Kanton Graubünden hat immer noch kein spezifisches Gesetz, das die Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten der Treuhänder bei der Gründung von Unternehmen beschränkt, so dass sich der Missbrauch fortsetzt. Das Loch im Panzer bleibt bestehen. Was für einige Verwaltungsräte im Misox und im benachbarten Tessin ein Vorteil ist, erhöht das Risiko, den Ruf der Schweiz als Ganzes zu beschädigen, wenn nicht bald etwas unternommen wird.   

Dieser Artikel erschien erstmals auf bonpourlatete.comExterner Link.

“Bon pour la tête” (Gut für den Kopf)

Nach der Umstrukturierung der Westschweizer Tageszeitung Le Temps und der damit verbundenen Schliessung des Magazins L’Hebdo lancierte eine Gruppe von Journalisten und Journalistinnen die Website “Bon pour la têteExterner Link“. Mit dem Namen nahmen sie einen berühmten Slogan von L’Hebdo auf. 

Dank eines Crowdfundings konnte die Seite Anfang des Jahres online gehen. Circa 30 MitarbeiterExterner Link arbeiten für die Onlinezeitung. Die Plattform will von Lausanne aus politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Nachrichten auf freche und neutrale Weise dem Publikum nahebringen.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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