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Schulharmonisierung auf dem Prüfstand

Wenn die Mutter nicht am Herd steht: Der betreute Mittagstisch fördert soziale Kontakte unter Kindern. Keystone

Einheitliches Einschulungsalter, Landesweit zwei Jahre Kindergarten, einheitliche Bildungsziele, Blockzeiten und bei Bedarf Tagesstrukturen: Das will das von den kantonalen Bildungsdirektoren beschlossene Harmos-Konkordat. Nach dem Nein im Kanton Luzern stimmen am 30. November vier weitere Kantone darüber ab.

Die Schweiz ist ein föderalistisches Land. Die Schulhoheit liegt bei den Kantonen.

Entsprechend gross sind die Unterschiede bei Lehrplänen und Bildungszielen, aber auch bei den Schulrhythmen, also bei der Frage, wann die Kinder Ferien oder Freizeit haben und wann sie zur Schule gehen.

Bereits die Frage nach der Anzahl Wochen Sommerferien führt regelmässig zu langen und hitzigen Diskussionen im Land.

Harmos hat das Ziel, Eckwerte wie das Schuleintrittsalter oder Dauer und Bildungsziele der obligatorischen Schulstufen zu vereinheitlichen.

Konkret soll der zweijährige Kindergarten in allen Kantonen obligatorisch werden. 14 Kantone haben das System bereits eingeführt. 86% der Kinder besuchen schon jetzt während zwei Jahren den Kindergarten.

Pro Sprachregion sollen ein einheitlicher Lehrplan geschaffen und die Lehrmittel besser koordiniert werden. Der Unterricht soll in Blockzeiten erfolgen.

Das heisst: Kindergarten und Schulen beginnen und enden für alle Kinder einer Gemeinde zur gleichen Zeit. Die Kantone verpflichten sich, Tagesstrukturen bereit zu stellen. Deren Kosten müssten teilweise von den Eltern übernommen werden.

Rechtlich ist Harmos die Konkretisierung des neuen Bildungsartikels, den das Schweizer Volk im Mai 2006 mit 86% Ja-Stimmen gutgeheissen hat. Dieser lässt die Schulhoheit zwar bei den Kantonen, gibt dem Bund jedoch die Kompetenzen zur Schulharmonisierung, falls sich die Kantone nicht einigen können.

Gehorsamkeit statt “Kuschelpädagogik”

“Harmos ist nicht harmlos” – mit diesem Slogan bekämpfen die Gegner das Projekt. Sie argumentieren, es berücksichtige die regionalen Unterschiede zu wenig, entmündige die Eltern und hätte hohe Kosten zur Folge.

Die Abstimmungsplakate zeigen weinende Kinder, die – so die Botschaft – offensichtlich unfreiwillig in den Kindergarten müssen.

Im Abstimmungskampf prallen Ideologien aufeinander. In den meisten Kantonen organisiert die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) den Widerstand gegen Harmos. Mit den Themen Bildung und Schule hat die Partei einen Kampflatz für ihre Oppositionsrolle entdeckt.

SVP-Exponenten prangern die “Kuschelpädagogik” der von linken Pädagogen dominierten Schule an und predigen die Rückkehr zu den alten Werten Disziplin, Treue, Rechtschaffenheit, Gehorsam, Sauberkeit und Ordnung.

“Kinder brauchen Nestwärme”

Die Partei zitiert das traditionelle Familienbild: Die Mutter steht noch am Herd und widmet sich der Erziehung. Mit Harmos hingegen sollen die Kinder – wie weiland in der DDR – verstaatlicht werden, kritisiert die SVP.

“Ich durfte jeden Mittag nach Hause kommen”, erinnert sich SVP-Nationalrätin Jasmin Hutter. Ihre Mutter habe dies ermöglicht, indem sie “ihre berufliche Karriere zurückgestellt” habe.

Der Lehrer und SVP-Nationalrat Oskar Freysinger warnt vor Jugendgewalt und Drogenproblemen: “Werden Kinder früh von ihren Eltern getrennt, ist eine gewisse Verwandlung gar nicht zu vermeiden. In den DDR-Schulen wurden Menschen geschaffen, die nicht fähig waren, sich individuell zu entwickeln.”

Der Präsident der SVP Zürich, Ueli Maurer, beklagt, dass “Kinder heute für viele Eltern mehr Kostenfaktor als Freude” seien. “Man opfert für Karriere und individuelle Freiheit die Freiheit des Kindes. Das ist ein Widersinn, das macht mich wütend. Kinder brauchen Nestwärme.”

Minuten-Väter, Stunden-Lehrer

Die Befürworter – das sind nebst den Regierungsparteien auch die Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Lehrerverbände – weisen auf die veränderten Familienverhältnisse, die im Arbeitsmarkt vermehrt geforderte Mobilität und die Tatsache hin, dass mehr als 70% der Mütter erwerbstätig sind.

“Am Mittag essen die Kinder vor dem Fernseher ein Sandwich. Wir dürfen nicht so tun, als ob die Mütter zuhause wären”, sagt der der Kinderarzt und Wissenschafter Remo Largo.

Wer behauptet, Erziehung und Sozialisierung der Kinder sei alleinige Aufgabe der Eltern, sei “blauäugig”, so Largo: “Kinder gehen über 10’000 Stunden zur Schule; da kann doch niemand behaupten, dass sie da nicht sozialisiert würden. Gewisse Kinder sehen ihre Väter während einiger Minuten täglich, ihre Lehrer aber während Stunden.”

Dazu komme die Tatsache, dass auch das Spielen mit andern Kindern eine wichtige Rolle im Sozialisierungsprozess spiele. “Erwachsene können hier keinen Ersatz bieten.”

swissinfo, Andreas Keiser

Zuständig für den Beitritt der Kantone sind die Kantons-Parlamente. Gegen deren Entscheid kann das Referendum ergriffen werden.

Ergriffen wurde das Referendum bisher in 6 Kantonen: Zürich, St. Gallen, Graubünden, Thurgau (Abstimmung 30.11.), Nidwalden (Abstimmung 9.2.2009) und Luzern.

Stimmt das Volk am 30.11. in den vier Kantonen zu, dann tritt Harmos in Kraft.

6 Kantone sind dem Konkordat beigetreten: Glarus, Schaffhausen, Waadt, Jura, Neuenburg und Wallis.

Luzern hat Harmos am 28.9. abgelehnt. Gescheitert ist das Projekt am früheren Kindergartenalter.

Die Kantone Zürich, St. Gallen und Thurgau hingegen haben den 2-jährigen Kindergarten bereits in den kantonalen Volksschulgesetzen verankert.

Der Kanton Graubünden müsste bei einem Ja das Kindergarten-Obligatorium einführen.

Im Kanton Bern läuft die Referendumsfrist noch bis Ende Jahr.

In den andern Kantonen befassen sich die Parlamente 2009 mit der Vorlage.

2003 deckte die Pisa-Studie je nach Kanton Unterschiede beim Bildungsstand auf.

2006 hiess das Stimmvolk den neuen Bildungsartikel in der Verfassung gut.

Der Vereinbarung zur Harmonisierung, welche die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren 2007 einstimmig verabschiedet hat, wird der Bildungsartikel umgesetzt.

Sie tritt in Kraft, wenn sie von 10 Kantonen ratifiziert worden ist.

Die Kantone haben nach ihrem Beitritt sechs Jahre lang Zeit, um die Anpassungen umzusetzen.

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