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Schweiz-Deutschland: Die Nettigkeiten sind vorbei

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland haben sich im Streit um Steuerflucht und Bankgeheimnis abgekühlt. Die Kraftrhetorik von Finanzminister Steinbrück brüskiert hierzulande, aus der Schweiz wird zurückgeschlagen. Die Sicht einer Schweizerin in Berlin.

Der Zorn der Schweizer auf den deutschen Finanzminister Peer Steinbrück ist gross: Er verglich die Schweizer mit Indianern, die vor der Finanzkavallerie kuschen. Vorher hatte der sozialdemokratische Regierungsvertreter der Schweiz mit der Peitsche gedroht.

In der Schweiz kocht derweil die Volksseele: Politiker, Medien und Leserbriefschreiber schlagen zurück. Steinbrück ist hierzulande mittlerweile zum Staatsfeind Nummer 1 geworden, einige Kritiker greifen gar zum Nazi-Vergleich.

Eine nicht ganz einfache Situation für die rund 225’000 Deutschen, die derzeit in der Schweiz leben. Und wie sieht es für Schweizer, die in Deutschland leben, aus? swissinfo wollte von Paola Carega, Schweizer Korrespondentin in Berlin, wissen, wie das Schweiz-Bild in Deutschland derzeit aussieht.

swissinfo: Hat das Image der Schweiz infolge der Steuerhinterziehungs- und Bankgeheimnis-Debatte gelitten, werden Sie als Schweizerin in Berlin darauf angesprochen oder gar angepöbelt?

Paola Carega: Nein, zum Glück nicht. Die Schweiz geniesst in Deutschland immer noch einen sehr hohen Sympathiebonus, und den verscherzt man sich nicht so leicht. Unter Journalistenkollegen kann man ein Stück weit nachvollziehen, dass sich das Land so schwer tut mit der Lockerung des Bankgeheimnisses.

Auf wenig Verständnis stösst aber, dass sich in der Sache so wenig tut, dass die Schweiz so zögerlich dasteht. Das schadet dem guten Ruf der Schweiz. Darauf wurde ich schon angesprochen. Ich habe jedoch noch nicht erlebt, dass ich mich verteidigen musste, weil ich aus der Schweiz komme.

swissinfo: In der Schweiz sind Politik, Medien und Öffentlichkeit empört über die Äusserungen Peer Steinbrücks. Wird das in Deutschland wahrgenommen?

P.C.: Ja, das wird sehr wohl wahrgenommen. Am Freitag habe ich mich in mindestens drei Tageszeitungen über eine Karikatur amüsieren können, die Steinbrück und die Schweizer zeigt. Die Schweizer sind sozusagen die Indianer.

Das zeigt, dass es sehr wohl wahrgenommen wird, aber eher amüsiert, ironisch, und nicht besorgt. Man hat sich auch nicht eingeschossen auf diesen Vergleich Steinbrücks mit den Nazi-Schergen aus dem Mund des christlichdemokratischen St. Galler Nationalrats Thomas Müller. Darüber habe ich nirgendwo etwas gesehen.

swissinfo: Die Medien nehmen also die Betroffenheit der Schweizer wahr. Und die Öffentlichkeit, Ihre deutschen Freunde, Ihre Bekannten, wissen die, wie in der Schweiz die Volksseele kocht?

P.C.: Nein, das weiss man eher nicht oder nimmt es zumindest erstaunt zur Kenntnis. In Deutschland geniesst Steinbrück viel Sympathie in der Bevölkerung. Er gehört zu den beliebtesten Politikern, und das trägt natürlich dazu bei, dass man sich über seine ruppigen Bemerkungen gegenüber der Schweiz nicht sehr aufgeregt hat.

Für die Opposition hingegen ist es eine gute Gelegenheit, jetzt gegen Herrn Steinbrück zu schiessen, denn im Herbst sind ja Wahlen in Deutschland.

swissinfo: Und für SPD-Mann Steinbrück? Macht der auch Wahlkampf, oder ist ihm das Thema Steuerhinterziehung wirklich sehr wichtig?

P.C.: Ich glaube, es ist ihm sehr ernst. Steuerhinterziehung ist für ihn seit Jahren ein Thema. Und er weiss, dass die Gelegenheit jetzt sehr günstig ist: Am 2. April findet ja der Weltfinanzgipfel der G-20-Staaten statt, und bis dahin muss er das Eisen schmieden.

Dass er jetzt vermehrt Druck macht und sich auch auf derartige Äusserungen einlässt, das ist sicher nicht in erster Linie Wahlpropaganda.

swissinfo: Der SPD-Politiker wird auch von deutschen Politikern kritisiert, zum Beispiel von CSU-Wirtschaftsminister zu Guttenberg, aber auch von FDP-Chef Westerwelle. Wird nur der “Cowboy-Stil” Steinbrücks kritisiert, oder geht es mehr um den Inhalt?

P.C.: Ich glaube, sie kritisieren nur den Stil. Ich habe kurz mit FDP-Vertretern gesprochen, und sie sind in der Sache auf Steinbrücks Linie. Auch sie sagen ganz klar, die Schweiz sollte das Bankgeheimnis lockern und besser mit den deutschen Behörden zusammenarbeiten.

swissinfo: In der Schweiz leben rund 225’000 Deutsche. Monatlich ziehen 3000 Deutsche in die Schweiz, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Schadet Steinbrück diesen Landsleuten nicht – Stichwort wachsende Schweizer Ressentiments gegen Deutsche?

P.C.: Ich hoffe es nicht. Schliesslich sollte jeder Schweizer in der Lage sein, zu unterscheiden zwischen den markigen Worten eines Politikers und dem Sachverhalt, um den es eben geht.

Ich habe in einem Interview mit einer deutschen Wissenschafterin, die in der Schweiz lebt, gelesen, dass sie wenig spürt von neuen Ressentiments. Andererseits sagt sie, dass das Verhältnis zwischen den Deutschen, die in der Schweiz leben, und den Schweizern generell schwierig sei. Und alte Ressentiments würden sich jetzt nicht gross verändern.

swissinfo: Würden Sie als Schweizerin, die in Deutschland lebt, also sagen, die Deutschen nehmen die ganze Affäre Steinbrück-Schweiz etwas gelassener als die Schweizer in der Schweiz?

P.C.: Ja, unbedingt. Das merkt man im Gespräch, wenn man die Zeitungen aufschlägt oder den Fernseher einschaltet. Auch die Boulevardmedien berichten nicht gross darüber.

Es ist eher ein erstaunt-amüsierter Blick, den die Deutschen auf die Schweiz richten. Man hat sich nicht auf diese Debatte eingeschossen. Die Schweiz ist ein kleines Nachbarland, und in Deutschland sind andere Themen im Moment wichtiger – ich nenne nur ein Stichwort: Opel.

swissinfo-Interview: Jean-Michel Berthoud

Nach dem Einlenken Österreichs und Luxemburgs im Streit über Steuerhinterziehung muss kein EU-Land mehr befürchten, auf einer Schwarzen Liste zu landen. Das stellte der tschechische Regierungschef und amtierende EU-Ratspräsident Mirek Topolanek auf dem EU-Gipfel in Brüssel klar.

Der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück unterstrich im Hinblick auf die Schweiz allerdings, Deutschland lege Wert darauf, dass es Informationen über Steuerflüchtlinge nicht nur bei Steuerbetrug, sondern auch bei Steuerhinterziehung bekomme.

Der Süddeutschen Zeitung sagte der Finanzminister: “Die Schweiz lädt Ausländer dazu ein, gegen Gesetze in ihren Heimatländern zu verstossen.” In Brüssel zeigte er sich aber bereit zu einem Treffen mit seinem Schweizer Amtskollegen Hans-Rudolf Merz. Zurzeit sei kein Treffen vorgesehen, sagte der Schweizer Finanzminister in der SonntagsZeitung dazu.

Er habe im Verlauf der Affäre gelernt, “unmissverständlich zu formulieren, was die Schweiz betrifft”. Steinbrück hatte der Schweiz im übertragenen Sinne mit Peitsche und Kavallerie gedroht, wenn das Land sein Bankgeheimnis nicht lockere und damit heftige Reaktionen ausgelöst. “Ich bekomme Drohbriefe und werde als Nazi-Scherge beschimpft”, wird der Minister zitiert. Das sei unverhältnismässig und inakzeptabel.

Ende August 2008 lebten über 1,6 Millionen Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Das sind über 21% der Bevölkerung.

Gegen 225’000 oder rund 14% davon sind deutsche Staatsangehörige.

Damit sind die Deutschen nach den Italienern die zweitgrösste Ausländergruppe.

Die Schweiz ist in den letzten Jahren zum beliebtesten Auswanderungsziel für Deutsche geworden.

Ein Grossteil der in der Schweiz wohnhaften Deutschen sind gut qualifizerte Arbeitskräfte, viele sind Kaderleute oder Akademiker.

Die Schweiz ist der neuntgrösste Handelspartner Deutschlands, Deutschland der grösste Handelspartner der Schweiz, die Schweiz der sechstgrösste Direktinvestor in Deutschland.

Rund 75’500 Schweizerinnen und Schweizer leben in Deutschland.

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