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Der Kanton Jura auf der Suche nach seiner zweiten Jugend

Eine der vielen spektakulären Aktionen der jurassischen Autonomiebewegung: Am 18. März 1972 wurden in der Bundesstadt Bern fast 300 Meter Strassenbahngleise zugeteert. Bernard Willemin

Der jüngste Schweizer Kanton feiert vom 21. bis 23. Juni den 40. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Ist der Jura ein Kanton wie jeder andere geworden? Eine Suche nach Antworten.

 Schon 1979 war ein starker Regionalismus spürbar. Bis heute hat dieser sich weiter akzentuiert und äussert sich nun beispielsweise in Streitereien über die Reorganisation der Spitäler. 

Das ist es, was die drei Bezirke des Kantons Jura (Delémont, Porrentruy, Franches-Montagnes) antreibt. Vom 21. Bis 24. Juni wird in Saignelégier das 40-jährige Bestehen des Kantons Jura würdig gefeiert.

Die Jurafrage

Der Jura, Gebiet des ehemaligen Bistums Basel, wurde 1815 mit dem Kanton Bern vereint. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs fordern separatistische Bewegungen die Autonomie dieser Region und die Schaffung eines neuen Kantons.

Der Ton verschärfte sich seit den 1960er-Jahren, es kam zu Zusammenstössen zwischen Separatisten und Antiseparatisten, sowie zu Anschlägen in der ganzen Region (Feuer, Molotow-Cocktails, Bomben, Schüsse).

1974 stimmten die Bezirke Porrentruy, Delémont und Franches-Montagnes für die Autonomie. Die Gründung des Kantons Jura wurde 1978 vom Volk auf Bundesebene genehmigt. Die Souveränität galt ab dem 1. Januar 1979.

“Ich frage mich, ob wir als Jurassier nicht zum Zeitpunkt der ersten Volksabstimmungen (1974/75) geeinter waren. Wir kämpften damals für eine gemeinsame Sache gegen einen bestimmten Gegner: den Kanton Bern”, sagt der ehemalige Nationalrat der Sozialdemokraten, Jean-Claude Rennwald. 

Auf der Suche nach Attraktivität

Ist der jüngste Schweizer Kanton in vierzig Jahren Eigenständigkeit nicht gereift? 

Der Präsident der jurassischen Regierung, Jacques Gerber (Freisinnig-Demokratische Partei), meint: “Die identitäre Bindung an unseren Kanton ist wahrscheinlich nicht mehr nur an das Territorium gebunden. Der Jura gehört zu den Kantonen, die am meisten Studierende an die Universitäten des Landes schicken. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, attraktive Bedingungen zu bieten, damit kluge Köpfe hier Projekte und Unternehmen entwickeln.”

Das Problem: Sobald die Jungen ein Studium in Neuenburg, Lausanne oder Genf begonnen haben, spüren sie kein Heimweh mehr. “Vergessen wir nicht, dass wir nur ein halb-urbaner Kanton sind”, sagt Rennwald. Aber im Jura öffnen sich Perspektiven. “Junge Menschen bleiben tendenziell eher in der Gegend, seit es mehr Möglichkeiten gibt, zum Beispiel mit der Haute Ecole Arc Santé in Delémont.”

Befähigte Bürgerinnen und Bürger

Für seinen ehemaligen Parteikollegen Andreas GrossExterner Link aus Zürich, der seit 21 Jahren in St. Ursanne lebt, hat der Jura heute nicht ganz die Konturen, die sich seine Gründerväter erhofft hatten: “Ein besonderer Kanton, sozial offen, demokratisch und frei. Kurz gesagt, eine Gegend, in der die Einheimischen gerne leben und prosperieren.” Die Realität ist heute kontrastreicher.

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Gross wünscht sich, dass sich der Jura in Zukunft für “mehr Verantwortlichkeit seiner Bürger” öffnet. Sprich: Eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Angelegenheiten des Kantons. 

“Zum Beispiel durch die Reduktion der Anzahl der Unterschriften, die für den Erfolg einer kantonalen Volksinitiative erforderlich sind. Der Jura verlangt die Unterschriften von 3,3% der Wählerschaft. Diese Quote beträgt in Zürich 0,8% und in Genf 2%”, so Gross, ein ausgewiesener Demokratie-Spezialist.

Laut Gross sollte der Jura auch reaktionsschneller sein, insbesondere im sozialen Bereich, indem er die Entstehung neuer Formen von Genossenschaften (Landwirtschaft, Wohnen) unterstützt. 

Ziel wäre es, eine solide Plattform aufzubauen, ausgehend von Bestehendem. Oder anders gesagt: “Das ländliche Industriegenie des Juras (Uhrmacherei, Mikrotechnik, Landwirtschaft) fördern, durch die erleichterte Vergabe von Mikrokrediten, um lokalen Start-ups zu helfen”, schlägt er vor.

Ein Schritt in Richtung Basel und Frankreich

Auch die Verkehrswege, insbesondere die Eisenbahnlinien, nach Basel und Frankreich müssen noch verbessert werden. “Wir brauchen Busverbindungen nach Belfort, Besançon, Altkirch”, sagt Gross, der sich für die Einführung eines automatisierten öffentlichen Nahverkehrs einsetzt. “Es sollte eine grössere Durchlässigkeit mit Frankreich entwickelt werden.”

Rennwald stimmt zu, relativiert aber auch: “Die grösste Anstrengung in den letzten 40 Jahren lag gerade im Bereich der Verkehrswege und einer proaktiven Verkehrspolitik. Diese beiden Elemente haben es ermöglicht, dass der Kanton nicht mehr vom Rest des Landes isoliert ist. Die Jura-Autobahn (A16) hat uns dem Mittelland näher gebracht und gleichzeitig den Austausch innerhalb des Kantons gefördert.”

Doch noch ist nicht alles perfekt. Zum Beispiel gibt es keine direkte Bahnverbindung zwischen dem Jura und der Genfersee-Region. Der Umweg über Biel ist unumgänglich. Doch es liegt eine Idee in der Luft. “Eine direkte Verbindung zwischen Delémont, den Freibergen und La Chaux-de-Fonds”, prophezeit Rennwald.

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Ein Superkanton Jura

Nach 16 Jahren Erfahrung als Bundesparlamentarier (1995-2011) wirft Rennwald der jurassischen Classe Politique immer noch mangelnde Antizipation in den betreffenden Dossiers vor. “Trotz vieler Treffen zwischen Parlamentariern und jurassischen Exekutiv-Mitgliedern sind die Anträge der Regierung vor jeder Session der Bundesversammlung zu spät eingetroffen, um die Debatten zu beeinflussen.”

Daher rührt seine Idee, einen “Superkanton” zu schaffen, der den Jura, aber auch Neuenburg und den ganzen Jurabogen einbezöge. “Vielleicht würden wir in Bern mit dieser geeinten Front mehr gehört werden.” Biel hätte einen Sonderstatus.

Gross teilt diese futuristische Vision. Und überbietet sie gar: “Ein grosser zweisprachiger Kanton, zu dem auch der Solothurner Jura gehört…. bis zum Vallée de Joux. Ja, natürlich ist die Idee verlockend, und das nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht. Die Lebensbedingungen würden sich für alle verbessern.”

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Paradies der Reinheit

Laut Gross ist der Jura der Garten der Schweiz: “Der Jura ist das Kanada der Schweiz. Der Doubs ist wie der Yukon. Die Natur ist unberührt und wild. Viele meiner Mitbürger kennen dieses Paradies für Wanderer, Radfahrer, Reiter, Wassersportler und Camper noch nicht.” Gross wird zum Lyriker, wenn er über seinen Wahlkanton spricht. Er setzt sich für die Entwicklung von weichen Infrastrukturen ein, um mehr Touristen anzuziehen.

Doch der Kanton steckt seit einiger Zeit seine ganze Energie und Geld in die schwere Infrastruktur. Man spricht im Jura nur noch über das zukünftige Theater in Delémont.  “Eine Notwendigkeit”, gibt Rennwald zu. “Bis jetzt war das Theater ein Gebastel, was die Infrastruktur betrifft.”

Die Arbeiten sollen im Frühjahr 2021 abgeschlossen sein, die Einweihung ist noch im selben Jahr geplant. Dieser Ort werde die Identität des Juras mit seiner Offenheit, Einfachheit und Widerspenstigkeit verkörpern, sagt man in der Hauptstadt. Ein Selbstporträt dessen, was der Jura schon immer innerhalb und ausserhalb seiner Grenzen darstellen wollte.

40 Persönlichkeiten für 40 Jahre Jura

Wann wird es im Bundesrat einen Jurassier oder eine Jurassierin geben? Das wäre eine Art Weihe für den jüngsten Kanton der Schweiz. “Einer der wenigen, der meiner Meinung nach das nötige Kaliber hatte, war Joseph Voyame”, sagt Rennwald. Der Rechtsanwalt war der geistige Vater der Juraverfassung. Unter der Leitung von Bundesrat Kurt Furgler arbeitete er an der Spitze des Bundesamtes für Justiz (1973-1988).

Er erzählte jeweils augenzwinkernd, er habe 1975 innerhalb von sechs Tagen die Verfassungsurkunde geschrieben… unter einem Baum in den Freibergen sitzend. Auch Voyame träumte insgeheim von einem Jura, der sich “vom Bielersee bis zu den Toren Frankreichs” erstreckt, wie es in der Jurahymne besungen wird.

Voyame kommt beispielsweise in dem Buch “40 jurassische Persönlichkeiten, die in der Schweiz und der Welt tätig sind” der Waadtländer Kolumnistin und Essayistin Marie-Hélène Miauton vor: Voraussetzungen für die Aufnahme: Im Kanton Jura geboren sein oder aus ihm stammen oder dort von Kindheit an gelebt haben und ausserhalb des Kantons Jura für die Arbeit anerkannt sein.

Wer wird in diesem Buch erscheinen? Das Geheimnis wird gut gehütet bis zur Buchvernissage am 21. Juni im Hôtel des Halles in Porrentruy, am ersten Tag der Feierlichkeiten zum 40-jährigen Jubiläum der Kantonsgründung. Eines ist sicher: Jean-Claude Rennwald gehört dazu.

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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