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“Switzerland first”: Warum die Schweizer Aussenpolitik eigennütziger wirkt

Bundeshaus
Das Bundeshaus, der Sitz von Regierung und Parlament, vor den Berner Alpen. © Keystone / Christian Beutler

Die Schweizer Aussenpolitik hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Sechs Gründe, warum die Eigeninteressen stärker sichtbar sind.

Das Agenda-Setting der schweizerischen Diplomatie erinnere an jenes von NGOs, enervierte sich ein Vertreter des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse an einem ReferatExterner Link vor bald zwei Jahrzehnten.

“Die Schweiz wollte früher die Welt ‘retten'”, sagt auch Aussenpolitikerin Yvette Estermann von der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Man habe gemeint, als sogenanntes reiches Land besonders verpflichtet zu sein, der Welt zu helfen.

Ob die Schweiz früher tatsächlich altruistisch, wie eine NGO, auftrat oder ihre Interessen einfach im Versteckten verfolgte, kann offenbleiben.

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Tatsache ist: Es hat sich etwas verändert. Die Schweiz stellt ihre eigenen Interessen – seien es monetäre oder andere – spürbarer in den Fokus der Aussenpolitik. Was sind die Gründe für diesen Kurswechsel?

Erstens: Globalisierung hat Aussenpolitik relevanter gemacht

Die Aussenpolitik der Schweiz entwickelte sich im Vergleich zu anderen Ländern relativ spät und war lange Zeit institutionell nur schwach ausgebautExterner Link. Es ging primär um gute Handelsbeziehungen, also um Aussenwirtschaftspolitik. Berührungspunkte zu anderen Politikbereichen gab es wenige.

Im Zuge der Globalisierung hat sich das Verhältnis von Innen- und Aussenpolitik radikal verändert. “Momentan gibt es fast keinen Bereich des Lebens in der Schweiz, der nicht vom Ausland und von der Aussenpolitik beeinflusst wird”, sagt SVP-Politikerin Estermann.

Laut dem Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDAExterner Link muss Aussenpolitik deshalb einen “gesamtheitlichen Ansatz” verfolgen, damit die Schweiz ihre Interessen wahren kann. Will heissen: Die Schweiz muss im Ausland kohärent auftreten, wofür eine eigene Abteilung sorgt.

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Die früher eher “schmale” Aussenpolitik mauserte sich also in der stark globalisierten Schweiz zu einem zentralen Politikfeld. Weil die Schweiz mit anderen Ländern wirtschaftlich, wissenschaftlich und gesellschaftlich so stark verknüpft ist, wird die Aussenpolitik auch für den Wohlstand immer wichtiger. Es steht somit einfach mehr auf dem Spiel als früher, und entsprechend steht die Aussenpolitik im Inland unter schärferer Beobachtung.

Zweitens: Die Schweiz ist gezwungen, ihre Interessen zu formulieren

Laut Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace, hat die Schweiz immer Mühe gehabt, ihre eigenen politischen Interessen klar zum Ausdruck zu bringen und umzusetzen. “Manchmal versuchte sie bis zuletzt, gute Rahmenbedingungen für ihre Wirtschaft aufrechtzuerhalten, also für die Exportindustrie oder Finanzdienstleister.” Aber das sei mehr eine Dienstleistung für Dritte als die Durchsetzung politischer Interessen im eigentlichen Sinne.

Patrick Dümmler vom wirtschaftsnahen Thinktank Avenir Suisse interpretiert es so, dass sich die Schweiz aussenwirtschaftlich zunehmend selbst helfen muss. Er sieht die Ursache in den geschwächten multilateralen Institutionen. “Die Schweiz muss andere Kanäle suchen, um ihre Interessen zu vertreten.” Als Beispiel nennt Dümmler die gescheiterte Doha-Runde der Welthandelsorganisation. Die Schweiz sei gewissermassen gezwungen, ihre aussenwirtschaftlichen Interessen zunehmend bilateral durchzusetzen.

Zwei Männer besuchen eine Ausstellung
Im Herbst 2020 wurde auf dem Place des Nations vor dem europäischen Hauptsitz der Uno die Ausstellung “100 Jahre Multilateralismus in Genf” gezeigt. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Laut Elisabeth Schneider-Schneiter von der Partei “Die Mitte” gibt es noch einen anderen Grund dafür, dass die Schweiz verstärkt auf eigene Interessen achte: Die Welt sei – nicht zuletzt aufgrund des Ukrainekrieges – instabiler und machtpolitischer geworden. “Damit die Schweiz nicht zwischen den Blöcken zerrieben wird, muss sie sich zwingend mit ihren eigenen Interessen befassen.”

Nach dieser Lesart ist die Schweizer Aussenpolitik nicht unbedingt eigennütziger geworden, sondern spür- und sichtbarer.

Drittens: Die Aussenpolitik ist demokratischer geworden

Eine Begleiterscheinung dieser Sichtbarkeit ist: Aussenpolitische Entscheidungsprozesse sind kompetitiver und demokratischer geworden.

Zwar war die Aussenpolitik in der Schweiz nie so abgehoben und exekutiv-lastig wie in anderen Ländern, dennoch reichte es Interessensvertreter:innen oft, bei der Regierung Einflüsterer:innen zu platzieren, um aussenpolitische Entscheide im Sinne der eigenen Lobby ausfallen zu lassen.

Wie funktioniert die Schweizer Aussenpolitik? SRF News Plus vom 31.01.2022:

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Das funktioniert nicht mehr: Heute mehr denn je gibt es Mitbestimmungsmöglichkeiten von Parlament, Kantonen und Stimmvolk.

Das führt uns zum nächsten Punkt.

Viertens: Aussenpolitische Entscheide müssen vermehrt eine politische Mehrheit finden

Ein gutes Beispiel dafür, dass Aussenpolitik verstärkt die Interessen der Schweiz ins Zentrum rückt, um politische Mehrheiten zu finden, ist eine 2020 angepasste Strategie der internationalen Zusammenarbeit. Die Schweiz will mit Entwicklungshilfe Fluchtursachen bekämpfen, damit weniger Menschen in die Schweiz migrieren. Sie verknüpft die Auslandshilfe mit ihren Eigeninteressen.

Nur so sei es gelungen, die Strategie durch das Parlament zu bringen, sagt Aussenpolitikerin Christine Badertscher von der Grünen Partei. “Wenn man die Schweizer Interessen weglässt, erreicht man im Parlament keine Mehrheit, das ist einfach eine Realität.” Der Erfolg sei umso bemerkenswerter, da die Strategie mitten in der Corona-Pandemie verabschiedet wurde, als es hiess, man müsse jetzt für die Schweiz schauen.

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Fünftens: Ein wirtschaftsliberaler Aussenminister

Dass die Strategie der internationalen Zusammenarbeit eine politische Mehrheit fand, ist laut Badertscher auch ein Verdienst von Aussenminister Ignazio Cassis von der FDP. “Er hat die Strategie seiner Partei so gut verkauft, dass sie ohne Kürzungsanträge Ja gesagt haben.” In der Vergangenheit habe es von bürgerlicher Seite immer Widerstand und Kürzungsbestrebungen gegeben.

Ein Mann posiert
Aussenminister Ignazio Cassis von der FDP.Die Liberalen. © Keystone / Gaetan Bally

Claudia Friedl von der Sozialdemokratischen Partei (SP) führt den eigennützigeren Kurs der Schweiz direkt auf die Person Cassis zurück: “Unter Aussenminister Cassis sehen wir wieder eine Hinwendung zur ursprünglichen Doktrin von Aussenpolitik primär als Aussenwirtschaftspolitik.” Sie sieht das kritisch: Es bestehe die Gefahr, dass andere Aspekte in den Hintergrund träten.

Tatsächlich hat Aussenminister Ignazio Cassis mehrfach betont, dass die internationale Zusammenarbeit Schweizer Interessen dienen muss und keine rein altruistische Aktivität sei. Auch sagte erExterner Link in Bezug auf die Beziehungen zur EU, Aussenpolitik sei immer Interessenpolitik, auch unter Freunden, da dürfe man nicht allzu romantisch sein.

Sechstens: Aussenpolitik wird Innenpolitik

In eine ähnliche Richtung argumentiert Schneider-Schneiter: “Aussenpolitik wird immer mehr zur Innenpolitik und damit zur Interessenspolitik.”

Interessenspolitik müsse aber nicht per se schlecht für die Welt sein. Eine kluge internationale Zusammenarbeit könne für die Schweiz, aber auch für die Welt einen Mehrwert sein.

Sie nennt als Positivbeispiel, dass Entwicklungszusammenarbeit vermehrt mit dem Privatsektor angegangen wird. “Schweizer Unternehmen können neue Märkte erschliessen, dort Arbeitsplätze schaffen und gleichzeitig nachhaltigen und wertebasierten Handel betreiben.” Das sei letztlich eine Win-win-Situation.

Editiert von Balz Rigendinger.

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