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Auf der Suche nach den verlorenen Sekunden

Bahnhofsuhr im klassischen SBB-Design im "Shopville" unter dem Zürcher Hauptbahnhof. Keystone

"Schaffe ich es noch auf den Zug?" Um diese Frage zu beantworten, reicht ein Blick auf den Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr. Doch was, wenn im Land der Pünktlichkeit diese Sekundenkelle plötzlich fehlt, wie dies an einigen Bahnhöfen festgestellt wurde? Eine Spurensuche.

“Steht die Zeit still?”, fragen sich viele Touristen in der Schweiz. Wer nicht zu knapp auf den Zug rennt, findet oft die Zeit, eine Bahnhofsuhr etwas länger als einige Sekunden zu betrachten. Dabei fällt vermutlich nicht auf, dass der Sekundenzeiger lediglich 58,5 Sekunden für eine Umdrehung braucht. Auffälliger hingegen ist, dass er während 1,5 Sekunden auf 12 stehen bleibt.

Wenn der Minutenzeiger vorrückt, beginnt sich auch der Sekundenzeiger wieder zu bewegen. Der Grund: Weil die Hauptuhr in Zürich früher lediglich einen Minutenimpuls an alle Bahnhofsuhren der Schweiz aussenden konnte, wurden die Sekundenzeiger mit einem eigenen Elektromotor ausgerüstet. Durch den so genannten Minutensprung, die kurze Verschnaufpause auf der 12, konnten schweizweit schnellere und langsamere Sekundenzeiger jede Minute justiert werden.

Die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) basiert auf diesem Minutensprung, der laut Köbi Gantenbein zusammen mit der Kellenform des Sekundenzeigers zu einem einzigartigen Markenzeichen wurde. Weshalb dieser auch bei den neueren, elektronisch gesteuerten Uhren beibehalten wurde. Gantenbein, Chefredaktor der Architektur- und Design-Zeitschrift Hochparterre, hat dieser Uhr ein ganzes Buch gewidmet (“Die Bahnhofsuhr – ein Mythos des Designs aus der Schweiz”).

Die Schweizer Bahnhofsuhr von 1944 mit der prägnanten Sekundenkelle ist auch eine Erfolgsgeschichte schweizerischen Designs.

1986 wurde sie von der Firma Mondaine als Armbanduhr lanciert und landete nach einigen Jahren unter anderem auch im New Yorker Museum of Modern Art.

2012 integrierte der Elektronikriese Apple die SBB-Uhr im Betriebssystem seines iPad-Tablets – ohne sich mit den Rechteinhabern abzusprechen. Drei Wochen nach einer Einsprache der SBB zahlte Apple laut Tages-Anzeiger 20 Mio. Fr. Lizenzgebühren.

Automatische Sekunden

Blickt man in das Innere einer modernen Bahnhofsuhr, stellt man erstaunt fest, dass dieses so gut wie leer ist. Je ein Gehäuse in Grösse eines Walkmans ist an den Innenseiten der beiden Zifferblätter befestigt. Darin befinden sich die Elektronik und das Uhrwerk, nicht grösser als eine Armbanduhr. Eine Reihe von LED-Lämpchen sorgt für gleichmässige Beleuchtung.

“Zeiger nicht verstellen. Uhr richtet sich automatisch”, steht auf einem Warnschild im Innern der Uhr. “Das heutige Signal, das an die elektronisch ausgerüsteten Bahnhofsuhren geht, ist selbstrichtend”, sagt Reto Reist, CEO von Moser-Baer im Emmentaler Dorf Sumiswald, wo seit über 75 Jahren alle Bahnhofsuhren der Schweiz hergestellt werden.

Doch die Uhren sind auch anderswo gefragt. In der Fertigungshalle stehen Kisten mit Uhren für ein Projekt in Saudi-Arabien oder für die Metro in der indischen Hauptstadt Delhi. Zudem beziehen auch die Deutsche Bahn und die Niederländische Staatsbahn ihre sekundengenauen Bahnhofsuhren aus Sumiswald.

Neben den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) betreiben auch Busbetriebe, an Bahnhöfe angegliederte Einkaufszonen, Elektrizitätswerke und Gemeinden im Umfeld von Bahnhöfen solche Uhren. Allein die SBB besitzen knapp 5300 Uhren, wie Mediensprecherin Lea Meyer erklärt.

Zur Moser-Baer-Gruppe gehört auch die Marke Mobatime, unter der in Sumiswald neben anderen Uhren die Bahnhofsuhren für die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) hergestellt werden.

Auch das traditionelle dreitönige Postautohorn wird im Emmentaler Dorf produziert, wo Moser-Baer mit über 100 Angestellten einer der grössten Arbeitgeber ist.

Unter der Marke Mobatec fertigt das Unternehmen Medizinaltechnik-Werkzeuge, Präzisionsmechanik und elektronische Teile.

Weltweit arbeiten über 250 Personen für die Moser-Baer-Gruppe.

Abmontierte Sekunden

Nun berichtete der Tages-Anzeiger kürzlich, an verschiedenen Bahnhöfen zeigten die Uhren nur noch Stunden und Minuten an. Das Problem: Bei den rund 20-jährigen Uhren älterer Bauart sorgt der Sekundenzeiger öfter für Probleme.

Laut der Zeitung geht der Synchronmotor für diesen Zeiger schneller kaputt als der Antrieb des Minutenzeigers, weshalb einige Sekundenzeiger klemmten und stehenblieben. Deshalb werde dieser oft einfach abmontiert, da laut SBB keine speziellen Schrittmotoren mehr erhältlich sind.

“Da wir uns wegen des technologischen Fortschritts mitten in einem Uhren-Generationenwechsel befinden, werden bei den alten Uhren bis zum Austausch die Sekundenzeiger nicht mehr ersetzt”, schreibt Lea Meyer auf Anfrage von swissinfo.ch. Die neuen Uhren aus Sumiswald haben dieses Problem nicht mehr: Muss ein Uhrwerk ausgetauscht werden, kostet das laut Reist inklusive Montage lediglich einige hundert Franken.

Wichtige Sekunden

Die Kelle, die mit ihrer Form an die rote Signalkelle erinnert, die der Bahnhofsvorstand früher jeweils schwenkte, “gehört als Zeichen zu den Schweizer Bahnen. Wenn die fehlt, geht ein visuelles Zeichen verloren”, betont Gantenbein, der oft mit der Eisenbahn unterwegs ist. Man merke erst, wie “komfortabel” die Sekundenkelle sei, “wenn sie nicht mehr da ist”. “Eine wichtige Funktion der Sekundenkelle ist, zu zeigen, wie lange es noch geht, bis die Minute voll ist, bis der Zug abfährt.”

Die Sekunden auf Bahnhofsuhren werden erst seit 1944 angezeigt, als der bei den SBB angestellte Elektro-Ingenieur Hans Hilfiker das unverwechselbare Design schuf, das Bahnhofsuhren in ganz Europa inspirieren sollte.

Täglich fahren in der Schweiz rund eine Million Passagiere mit der Bahn.

2013 erreichten 87,5% der SBB-Passagiere mit weniger als drei Minuten Verspätung ihr Ziel.

So definieren die SBB die “Kundenpünktlichkeit”: Anteil der vorzeitig, pünktlich oder mit weniger als 3 Minuten Verspätung angekommenen Reisenden.

Im Vergleich mit anderen Ländern stehen die schweizerischen Bahnen damit sehr gut da. Vielerorts gilt ein Zug erst mit 5 Minuten Verspätung als unpünktlich. In England etwa erreichen lediglich 2/3 der Züge ihr Ziel zur geplanten Zeit.

Schweizer Sekunden

Die erste Uhr mit genauem Sekundenzeiger baute ebenfalls ein Schweizer, 1585 im Auftrag des Landgrafen Wilhelm IV. im deutschen Kassel. “Jost Bürgi war mit Abstand der Einzige, der Genauigkeit garantieren konnte”, sagt Fritz Staudacher, der kürzlich das Buch “Jost Bürgi, Kepler und der Kaiser” herausgegeben hat. Bürgi (1552 – 1632) war ein Toggenburger Uhrenmacher, der in Deutschland und Tschechien tätig war.

“Das Beste, was es zu Bürgis Zeiten gab, waren Uhren, die in 24 Stunden auf eine Viertelstunde genau gemessen haben. Bürgi schaffte pro Tag eine Minute, für damalige Verhältnisse eine sehr hohe Genauigkeit”, so Staudacher. Erst 80 Jahre später, nach der Erfindung des Uhrenpendels, hätten andere eine solche Genauigkeit erreicht.

Positionsbestimmende Sekunden

Erst die Genauigkeit von Bürgis Observatoriums-Uhren habe die Verbindung zwischen Zeit und Raum und somit genaue Streckenmessungen ermöglicht, ist Staudacher überzeugt, der vor seiner Pensionierung die Kommunikationsabteilung des Vermessungs-Spezialisten Leica Geosystems geleitet hat. So basiere etwa das Positionsbestimmungs-System GPS nicht auf einer Strecken-, sondern auf einer Zeitmessung, sagt er. “Die Zeit ist die Basis.”

Über die fehlenden Sekundenzeiger in Schweizer Bahnhöfen allerdings kann Staudacher nur schmunzeln. “Es ist eine Gewohnheitssache”, sagt er. “Ich versuche, es mit philosophischer Gelassenheit zu sehen. Es kommen Welten, und es gehen Welten.”

Ironie des Schicksals: Ausgerechnet zur Zeit des Werkstattbesuchs in Sumiswald steht bei einer der Uhren am Bahnhof der Sekundenzeiger still. Darauf angesprochen erklärt das Personal, das Problem sei bekannt, die Uhr werde demnächst repariert.

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