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Schweizer Juden stellen sich ihrer Geschichte

Flüchtlinge an der Grenze bei Boncourt/Ajoie. Viele wurden zurückgewiesen und in den Tod geschickt. Keystone Archive

Nach der offiziellen Schweiz hat jetzt auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) seine Politik zwischen 1933 und 1945 aufgearbeitet.

Der Historiker Stefan Mächler ging in einem Buch unter anderem der Frage nach, ob der SIG zu eng mit den teils judenfeindlichen Behörden kooperiert habe.

Das Werk “Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die nationalsozialistische Verfolgung 1933-1945” gibt neue Einblicke in das Schweizer Judentum während der Nazizeit. Die Publikation des Historikers Stefan Mächler wurde am Mittwoch im Rahmen der 100. Delegiertenversammlung des SIG in Basel vorgestellt.

Premiere

Gabrielle Rosenstein von der SIG-Geschäftsleitung betonte, dass der Gemeindebund die Initiative zu diesem Forschungsprojekt ergriffen habe. Es existiere zwar bereits Literatur, die auf die SIG-Politik in der NS-Zeit eingehe. Eine Forschung, die die damalige Politik des Gemeindebunds und seines Hilfswerks ins Zentrum stelle und systematisch untersuche, habe es bisher nicht gegeben.

Rosenstein sprach dabei auch die ungeklärten Gerüchte an, die über die Haltung des Gemeindebunds gegenüber seinen verfolgten Glaubensgenossen kursierten. Gerüchte, die teilweise dem Schweizer Judentum selbst die Verantwortung für eine antisemitische Behördenpolitik aufbürden wollten.

Keine Alternative zu Kooperation

SIG-Präsident Alfred Donath erinnerte, dass die enge Zusammenarbeit des SIG mit den Behörden schon damals unter Beschuss aus den eigenen Kreisen gekommen sei. Angesichts der politischen Entwicklung und der eigenen Machtlosigkeit habe es, wie Mächler nun darlege, dazu aber nie eine Alternative gegeben.

Analoges gelte für die Finanzierung der Flüchtlingshilfe aus eigenem Etat und vermutlich sogar für die Solidaritätssteuer. Eine kritischere Distanz zur Bundesverwaltung hätte der SIG-Leitung aber erlaubt, ihren Spielraum besser auszuschöpfen und die Abhängigkeit von den Behörden zu verringern, erklärte Donath.

“Extreme Herausforderung”

Der SIG würdigt, dass die Publikation als Gesamtdarstellung über die Geschichte des Gemeindebunds und jene der Schweiz hinausweise. In einer Fallstudie werde zum einen dargelegt, wie eine kleine Minderheit in einer ablehnend gesinnten Gesellschaft mit extremen Herausforderungen umgegangen sei.

Zum anderen biete das Buch eine umfassende Analyse der Politik einer jüdischen Gemeinschaft im freien Europa zur Zeit des Nationalsozialismus. Bezüglich der Schweizer Flüchtlingspolitik untersuche Mächler die Vorgänge, die zur antisemitischen Rückweisungspolitik in den Jahren 1942 bis 1944 geführt hätten.

Ungeordnete Aktenhaufen

Der Historiker und Publizist Mächler konnte für seine Studien auf die institutionellen Akten des Gemeindebunds zurück gereifen, die ungeordnet und kaum zugänglich in einem Keller ruhten. Das Buch erscheint als zehnter Band in der SIG-Schriftenreihe zur “Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz”. Mächler reichte es als Dissertation an der Universität Basel ein.

swissinfo und Agenturen

Die Schweiz betrieb während des Zweiten Weltkrieges eine antisemitische Flüchtlingspolitik.
Juden zählten ab 1942 als Flüchtlinge “aus Rassegründen” und wurden nicht aufgenommen.
An der Grenze wurden rund 20’000 Juden zurückgeschickt, was für die Betroffenen oft den Tod in der Gaskammer bedeutete.
Zahlreiche wurden aber durch mutige Zivilpersonen und vereinzelt auch Behördenvertreter gerettet.

In den 1990er-Jahren wurden Schweizer Banken in den USA angeklagt, Gelder von jüdischen Nazi-Opfern den Angehörigen nicht zurückerstattet zu haben.

Die Banken willigten nach Boykottdrohungen in eine Globallösung ein und stellten Überlebenden über eine Milliarde Franken zur Verfügung.

Aufgrund grossen Drucks aus jüdischen Kreisen in den USA sah sich die Schweiz gezwungen, sich ihrer Vergangengheit zu stellen.

Experten der so genannten Bergier-Kommission verfassten darauf zahlreiche Studien.

Resultat: Schweizer Behörden und Wirtschaft haben sich allzu willig in die Dienste Hitlers gestellt.

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