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Schweizer Städte schlagen wegen Coronakrise Alarm

vue aérienne sur la ville de Bienne
Gleich doppelt geschlagen: Die Stadt Biel - im Bild der Hauptsitz des Uhrenkonzerns Swatch - leidet einerseits unter den happigen wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, andererseits unter dem eisernen Griff Chinas auf Hongkong. Die ehemals britische Kolonie ist der Hauptstützpunkt für die Schweizer Uhrenindustrie in Asien. Keystone / Peter Klaunzer

Die Coronakrise zieht auch die Schweizer Städte in den Strudel. Sie fürchten, auf ihren Einnahmeausfällen und Mehrkosten, die sie im Kampf gegen die Covid-Pandemie erlitten, sitzen zu bleiben. Jetzt wollen sie Erklärungen vom Bundesrat.

Die Schweizer Städte und Gemeinden fühlen sich als grosse Verlierer der Coronakrise.

28. Mai: Das Land schickt sich an, nach dem Lockdown wieder ein Stück Normalität zurückzuerobern. Da beschliesst der Schweizerische Städteverband (SSV), dem über 130 Gemeinden angehören, darunter die wichtigsten städtischen Zentren, den Bund zur Rede zu stellen. Der Grund: Die Gemeinden seien während der Covid-19-Krise nicht konsultiert, also übergangen worden.

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Der Verbund warnte in ungewohnt scharfen Worten vor den katastrophalen finanziellen Folgen der Pandemie für die städtischen Gemeinden. Konkret rechnen sie mit einem starken Rückgang der Einnahmen aus Steuern und Mieten und einem Einbruch der Einnahmen beim Gewerbe.

Die Städte wurden während der Covid-19-Pandemie nicht konsultiert, sondern übergangen.

Allein der Stadt Zürich erwachsen durch die Gesundheitskrise ausserordentliche Kosten von über 300 Millionen Franken. Und die Schätzung betrifft nur das laufende Jahr.

Finanzen auf Halbmast

Gemäss einer Umfrage unter rund siebzig Gemeinden des Städteverbands macht ihnen die Zukunft ernsthaft Sorgen. Insbesondere Städte wie Zürich, Bern, Aarau oder St. Gallen befürchten in den nächsten Jahren klaffende Löcher in ihren Gemeindefinanzen.

Es droht die bekannte Abwärtsspirale: Mit der Verschuldung droht der Rückgang der öffentlichen Ausgaben, der sich wiederum direkt auf die Bevölkerung auswirken würde. Als Gegenmittel kämen fast nur Steuererhöhungen in Frage.

Das aber wollen nur wenige Städte in Kauf nehmen. Statt ihre Bürger in diesen unruhigen Zeiten mit höheren Steuern zu schröpfen, planen sie eine Schulden-Kaskade. Sie wollen also auf ihr eigenes Vermögen zurückgreifen oder die in den guten Jahren aufgebauten Reserven auflösen. 

Miet-Dilemma

Während der Krise hat sich bei den Mietpreisen ein sehr unterschiedlicher Ansatz zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor herauskristallisiert. Die Städte hätten ihren “guten Willen” gezeigt und Mieten gesenkt, so der Verbund. Dies insbesondere bei den Mieten für Selbständige, die während des Lockdowns ohne Einkommen blieben.

Demgegenüber hätten viele andere Behörden nicht dieselbe Flexibilität gezeigt. Die Schweizer Regierung gab zwar einen Gesetzesentwurf in die Anhörung, dass Gewerbetreibende in Schwierigkeiten nur 40% der Mieten bezahlen müssten. Die Mitwirkung dauert aber bis zum 4. August.

Für vier von fünf Städten ist diese Massnahme aber ungenügend. “Es ist jetzt Aufgabe des Parlaments, auf nationaler Ebene ein klares Signal zu setzen”, fordert der Städteverband im Schreiben.

Darlehen und einmalige Zuschüsse

Aber das ist noch nicht alles. Die Städte haben sich auch bemüht, hier Übergangskredite bereitzustellen, dort einmalige Hilfe zu leisten, Online-Plattformen zu finanzieren, um die Verteilung lebenswichtiger Produkte an bedürftige Menschen zu sichern, oder Gutscheine auszugeben, welche die Einwohner in lokalen Geschäften ausgeben können, um diese zu revitalisieren. Natürlich belaufen sich diese Ausgaben auf Hunderte von Millionen Franken.

Dasselbe gilt für den Kultursektor. Die Städte zahlten kommunale Subventionen weiter aus, ohne dafür aber eine Gegenleistung zu erhalten.  

Im Bereich der Kinderbetreuung in Kindertagesstätten und Tagesschulen war die Unterstützung von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Der Föderalismus führte je nach Stadt und Standort zu grossen Unterschieden bei den Einnahmeverlusten.

Die Liste der ausserordentlichen Ausgaben der Gemeinden während der Covid-19-Pandemie ist nicht vollständig: erhöhte Sicherheitskosten, Defizite im öffentlichen Verkehr usw. Der Städteverband geht so weit, angesichts der staatlichen Beihilfen für Unternehmen des öffentlichen Verkehrs wie den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) auch eine Form von staatlicher Unterstützung zu fordern. 

Massnahmen der Verwaltung “ohne Praxisbezug”

In Biel – die Uhrenmetropole ist mit 55’000 Einwohnenden die zehntgrösste Stadt der Schweiz – ging Stadtpräsident Erich Fehr auf die Barrikaden. Der Sozialdemokrat nutzte die Anhörung zum Covid-19-Gesetz, um dem Bundesrat die Leviten zu lesen. Ziel des neuen Gesetzes ist es, die im Lockout verhängten Massnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus zu verlängern.

Für Fehr ist es erstaunlich, dass die Regierung die Städte nie zu diesem Gesetzesentwurf angehört hat. “Unverständlich, unzulässig”, wettert Fehr gegenüber SWI swissinfo.ch.

Es seien Städte wie Biel gewesen, die seit Mitte März “an der Front” gewirkt und neben den Covid-Schutzmassnahmen zahlreiche andere öffentliche Dienstleistungen aufrechterhalten hätten, mahnt Fehr. Das dürfe nicht länger vergessen werden.

Regierungsbeschlüsse wurden den Kantonen und Städten als unteren Ebenen erst im allerletzten Moment mitgeteilt.

Zur Erklärung der wachsenden Kluft zwischen Bund und Städten verweist Erich Fehr auf die von Mitgliedern der Bundesverwaltung während der Krise erarbeiteten Grundsätze, die zum Teil keinen “Praxisbezug” hätten, so seine Kritik. Ein Eindruck, der sich für ihn mehr als einmal bestätigte.

Was er kritisiert: Regierungsbeschlüsse – es waren dies Notverordnungen, die die Regierung aufgrund des Epidemiengesetzes eigenmächtig erlassen konnte – seien den Kantonen und Städten als unteren Ebenen erst im allerletzten Moment mitgeteilt worden. Für Erich Fehr war es dadurch schwierig, die Medien zum Beispiel zeitnah über konkrete Fragen zu informieren, etwa ob Masken kostenlos verteilt wurden oder nicht.

Erhöhte Armut

“Wir sind von der Regierung nie zu irgendeinem Thema angehört worden (Kinderkrippen, Fernschulen, Rückkehr in die Schule, Massnahmen im öffentlichen Verkehr, Kurzarbeit für den öffentlichen Sektor…). Es gab auch noch nie eine Konsultation zu Gesundheitsfragen”, ereifert sich der Bieler Stadtpräsident.

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Jetzt hat Fehr eine Unterredung mit den Behörden des Kantons Bern beantragt, um sicherzustellen, dass sich die Städte künftig besser einbringen können. Denn nach dem Ende der “ausserordentlichen Lage” sind es wieder die Kantone, die im Kampf gegen die zweite Corona-Welle federführend sind.

Kanton Bern als Lautsprecher

Die Behörden des Kantons Bern nehmen Fehrs Kritik nicht nur auf, sondern malen ein noch schwärzeres Bild, was die Zukunft angeht. Die Prekarität eines Teils der Bevölkerung werde zunehmen, insbesondere in den städtischen Zentren, lautet die Warnung aus dem Kanton Bern. Im Kampf gegen eine soziale Krise müssten die Städte angehört werden.

Zurück nach Biel: Wie sich die Dinge entwickeln. weiss niemand so genau wie Erich Fehr. “Die Anmeldungen zum Bezug von Sozialhilfe sind bereits um 50% gestiegen. Wir gehen davon aus, dass die Unternehmen bis Ende des Sommers konkrete Massnahmen ergreifen werden”, sagt er. Im Klartext: Fehr befürchtet Entlassungen in den regional wichtigen Branchen wie der Uhrenindustrie und der Mikromechanik.

“Es ist sicher, dass es zu Betriebsschliessungen und und Konkursen kommen wird”. Für sein Biel heisst das: nochmals schwindende Steuereinnahmen und ein weiter wachsendes Loch in der Stadtkasse.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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