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Schweizer Truthahn, ein unbeliebtes Fleisch

In der Schweiz ist Truthahnfleisch nicht besonders beliebt. Keystone

Migros will kein einheimisches Truthahnfleisch mehr verkaufen. Das illustriert die Schwierigkeiten der Schweizer Landwirtschaft, deren Produktion wegen der hohen Kosten nicht wettbewerbsfähig ist.

Der Entschluss des Schweizer Marktleaders im Detailhandel geht auf Rentabilitätsüberlegungen zurück – und führt zu einem Aufschrei.

Die guten Zeiten der Schweizer Landwirtschaft sind vorbei, jetzt muss restrukturiert werden. Unter anderem braucht es Diversifizierung. Deshalb haben Schweizer Bauern, vor allem in den Kantonen Waadt und Freiburg, mit Unterstützung der Grossverteiler, zu Beginn der Neunzigerjahre angefangen, auf Truthahnzucht umzustellen.

Aber was für die USA gilt, gilt nicht unbedingt für die Schweiz. Migros glaubte daran, muss aber heute feststellen, dass die Konsumentinnen und Konsumenten das nicht honorierten, wie der Marketingchef von Micarna, der Fleischverarbeitungsbetriebe der Migros, erklärt.

“Die kritische Masse wurde nie erreicht. Migros verarbeitet täglich 60’000 Poulets, aber nur 350’000 Truthähne pro Jahr”, hält Patrick Wilhem fest.

Sicherung der Arbeitsplätze

“Als Unternehmen müssen wir Arbeitsplätze sichern, in einem Markt, der sich im Wandel befindet”, erklärt Wilhem. “Wir können nicht einen Produktionszweig, der nicht auf das erhoffte Interesse stösst, über andere Sektoren subventionieren.”

Was die meisten anderen Grossverteiler seit Längerem tun, beschloss nun auch der Marktleader des Detailhandels: Er setzt auf Frankreich, Deutschland und Ungarn, die alle billiger produzieren. Ab Juni 2007 will er die Schweizer Produktion fallen lassen.

Denn die ist doppelt benachteiligt: Erstens verteuern die Produktionskosten (namentlich für das Futter) das einheimische Truthahnfleisch um das Zwei- bis Dreifache. Und zweitens wird sich das Importsystem bis 2007 vollständig verändern.

Tod einer Branche

Bisher konnten nur jene, die einheimisches Fleisch schlachteten, auch Fleisch importieren. Mit einem Teil des Gewinns konnte die Preisdifferenz zwischen dem teureren Schweizer und dem billigeren europäischen Geflügel aufgefangen werden.

Diese Unterstützung wird nun wegfallen. Die Importkontingente werden über ein Auktionsverfahren erteilt.

John Dupraz, Vizepräsident des Schweizerischen Bauernverbandes (SBV) und Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), glaubt, dass der Beschluss der Migros auch mit dem Zusammenschluss ihrer beiden Fleischverarbeitungsbetriebe zusammenhängt. Soziale Erwägungen würden nicht angestellt, es gehe nur darum, “Geld zu machen. Die Folge ist der Tod der Branche”, kritisiert Dupraz.

Das Recht auf Auswahl

Der Beschluss der Migros löste Reaktionen aus. Laut der Westschweizer Konsumentenorganisation, der Fédération romande des consommateurs (FRC), wollen viele Schweizerinnen und Schweizer wählen können zwischen dem nach sehr strengen Anforderungen produzierten Fleisch aus der Schweiz und jenem aus dem Ausland.

Zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern der Politik will der Grossverteiler an einer Verhandlungsplattform mit den Produzenten teilnehmen. Eine Möglichkeit wäre ein einheimisches Qualitätslabel. Aber schliesslich “wird der Konsument entscheiden”, meint Wilhem.

Der Vertreter der Migros glaubt, dass einheimisches Truthahnfleisch ein Spezialfall ist. Der Rest der Fleischbranche muss sich keine Sorgen machen.

“Schweizer Fleisch liegt nach wie vor gut im Markt”, erklärt Wilhem. “Dank seinem Geschmack ist es sehr gefragt. Aber jeder Produktionssektor muss überlebensfähig sein.”

Ungenügende Kostensenkung

Dupraz sieht in dieser Krise eher ein neues Beispiel dafür, dass die Schweizer Landwirtschaft wegen ihrer Produktionskosten gegenüber der Europäischen Union (EU) noch immer im Nachteil ist. Gründe sind das allgemein hohe Niveau der Preise, die Margen der Zwischenhändler, die Löhne, aber auch die gesetzlichen Anforderungen und Standards für die Schweizer Produktion.

“Trotz all unseren Bemühungen reicht es noch nicht aus, und das tut weh. Bei Brotgetreide zum Beispiel haben wir unsere Kosten in 10 Jahren um 50% gesenkt. Trotzdem sind wir noch zu teuer. Und der Druck auf die Preise wird mit der Globalisierung noch zunehmen.”

Der Weg über den Freihandel

Für den freisinnigen Nationalrat müssen deshalb dringend Lösungen gefunden werden, um sich den europäischen Preisen anzugleichen. Braucht es ein Freihandelsabkommen mit der EU? Dieser Weg wird gegenwärtig geprüft.

“Das würde eine Anpassungszeit und Unterstützungsmassnahmen bedingen”, so Dupraz. “Aber die Frage steht im Raum, denn abgesehen von einigen Qualitätsprodukten (Walliser Weine, Käse, Produkte mit kontrollierter Herkunftsbezeichnung) kann man in der Schweiz gerade so gut mit allem aufhören und alles importieren”, stellt der Genfer fest.

swissinfo, Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Von allen Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist die Schweiz mit ihrer Landwirtschaft am grosszügigsten. 2005 wurden 68% der Einkommen in der Branche vom Staat bezahlt. Tendenziell gehen diese Subventionen aber zurück.

Eine neue Etappe der Agrarreform ist in Vorbereitung (AP 2001). Angestrebt werden die Aufhebung der Exortsubventionen sowie eine umfangreiche Reduzierung der Marktstützung und der Zölle. Als Folge wird ein starker Rückgang der Produktionskosten erwartet.

Die Regierung verhandelt zur Zeit mit der Welthandels-Organisation (WTO) und bereitet sich auf Vorgespräche über ein eventuelles Agrar-Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union vor.

1990 gab es in der Schweiz 80’000 Landwirtschaftsbetriebe.
Fünfzehn Jahre später waren es noch 65’000.
Man schätzt, dass jeden Tag 5 Betriebe eingehen.
Die Landwirtschaft erarbeitet 1,3% des Bruttoinlandprodukts und stellt 4% der Arbeitsstellen.

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