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Sozialhilfe-Ausgaben bedrängen Gemeindefinanzen

Unter den Ärmsten in der Schweiz gibt es auch viele ältere Menschen. Keystone Archive

2003 nahm in der Schweiz die Anzahl Personen, die Sozialhilfe beanspruchten, um 10% auf 300'000 zu.

Städte und Gemeinden warnen vor Finanzierungsproblemen, falls dem Trend nicht Einhalt geboten werde.

2003 mussten rund 10% mehr Personen in der Schweiz Sozialhilfe beanspruchen. Das entspricht rund 25’000 Personen – oder der Bevölkerung einer Stadt wie Uster oder Frauenfeld, wie Ueli Tecklenburg, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), gegenüber swissinfo präzisierte.

Entscheidende Ursache dieser Zunahme auf neu 300’000 Personen ist laut SKOS die anhaltende Rezession. Doch auch ein künftiger Konjunkturaufschwung bringe nicht automatisch eine Lösung, sagt Tecklenburg: “In wirtschaftlich schlechten Zeiten erhöht sich jeweils die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger. In Aufschwüngen bildet sie sich aber nicht zurück, sondern bleibt einfach stabil.”

Noch hält das Netz der sozialen Sicherung

“Dies entspricht auf dem Arbeitsmarkt der so genannten Sockelarbeitslosigkeit, das heisst jener Arbeitslosigkeit, die strukturell bedingt ist, weil die entsprechenden Arbeitsplätze längst endgültig wegrationalisiert sind”, so Tecklenburg.

Die Zunahme betrifft Personen in der Stadt gleichermassen wie auf dem Land. Trotz der zusätzlichen Belastung sei es gelungen, das soziale Netz zu erhalten, sagte der SKOS-Geschäftsführer am Montag vor den Medien. “Das ist aber nur wegen des Milizsystems möglich.”

Doch die SKOS zeigt sich alarmiert, da auch dieses System an die Grenzen stosse. “Werden die Rahmenbedingungen der Sozialhilfe nicht verbessert, wird die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger in drei Jahren auf 400’000 Personen steigen”, warnt SKOS-Präsident Walter Schmid.

Da sich die Ausgaben für Sozialhilfe zwischen 1990 und 2001 auf rund 2 Mrd. Franken verdoppelt haben, könne die Lösung nicht in der “Verrentung der Betroffenen” liegen, sagt Tecklenburg. “Die Lösung besteht darin, anstatt Renten zu zahlen, vermehrt Integrationsmassnahmen zu finanzieren, und zwar in interinstitutioneller Zusammenarbeit.”

Der SKOS-Geschäftsführer denkt dabei beispielsweise an Ausbildungs-Massnahmen, welche die Sozialhilfe zusammen mit den Arbeitslosenkassen und der Invaliden-Versicherung plant. Denn nach der Aussteuerung durch die Arbeitslosenkasse fällt ein Arbeitsloser in die Sozialhilfe und riskiert, einige Jahre später zum IV-Rentner zu werden. Damit ist er endgültig aus dem Arbeitsmarkt gerutscht.

Familien und Alleinerziehende, Ausländer

In Relation zur Wohnbevölkerung seien Ausländer, Familien und Alleinerziehende (Working Poor) als Sozialhilfe-Empfänger übervertreten, so Tecklenburg. Der hohe Ausländeranteil sei eine Erbschaft aus den Boomzeiten der 60er und 70er Jahre, als die Schweiz die Masseneinwanderung von schlecht ausgebildeten Personen förderte.

Auch zahlreiche Kinder und Jugendliche gehören zu den Sozialhilfeempfängern – in der Mehrzahl innerhalb der erwähnten Familienkategorien.

Bei solchen Familien seien die Eltern zwar beschäftigt, teils auch vollbeschäftigt, aber in Tieflohnbranchen. “Da reichen eben die Löhne allein nicht, besonders wenn man alleinerziehend ist und hohe Fixkosten zu bestreiten hat”, führte Tecklenburg aus.

Folgen des revidierten Arbeitslosengesetzes

“Ein Grund für die Erhöhung der Ausgaben der Sozialhilfe liegt in der Kürzung der Periode, während der die Arbeitslosenkasse für den Lohnausfall aufkommt, auf rund 400 Tage”, sagte Urs Geissmann, Direktor des Schweizerischen Städteverbands.

Früher betrug diese Zeitspanne 520 Tage. Ab 1. Juli 2003 trat das revidierte Arbeitslosengesetz in Kraft, was Tausende von Arbeitslosen in die Sozialhilfe weiterschob. Der Bund sparte mit dieser Massnahme mehr als 400 Millionen Franken.

Nun wiege besonders für die Städte die Finanzlast sehr schwer. Geissmann weist auf den Finanzausgleich hin, der in einigen Kantonen zwischen Gemeinden und Kanton existiert. “Doch auch die Kantone sind nicht alle reich.”

Philippe Meystre, Sekretär der “Städteinitiative Sozialpolitik” für die Romandie, sieht Lösungen in vier Bereichen vor: Familienbeihilfen sollten schweizweit gleichermassen für alle Familien ausgerichtet werden, also auch für jene Familien ohne Beschäftigung, was gegenwärtig nicht der Fall ist.

Zweitens sollten Familien steuerlich bessere Abzüge machen können. Drittens sollten Kinderkrippen und –gärten vermehrt zugänglich und weniger teuer sein.

Und viertens sollte, wie im Kanton Tessin bereits Realität, ein Leistungssystem eingeführt werden, das Beiträge auszahlt, wenn bei der Steuererklärung die Belastung das Einkommen übersteigt.

Ausserdem schlägt SKOS-Präsident Walter Schmid vor, dass “analog zur AHV ein Ausgleichsfond geschaffen wird”. Denn die Sozialhilfe gebe ihr Geld sehr wirksam aus, da sie gezielt auf die Bedürfnisse eingehe und garantiere, dass niemand ins Bodenlose fällt.

swissinfo und Agenturen

Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat für die Gewährung von Sozialhilfe Richtlinien erlassen.
Diese machen beispielsweise für eine vierköpfige Familie mit zwei arbeitslosen Elternteilen einen Grundbedarf von 2425 Franken aus. Dazu kommen die Übernahme von Miete und Krankenkassenprämien. Alles zusammen rund 4367 Fr.
Für eine alleinerziehende arbeitslose Mutter beträgt der Grundbedarf 1734 Franken, benötigt werden 2939 Franken.
Für einen alleinstehenden Mann beträgt der Grundbedarf 1133 Franken, benötigt werden 2056 Franken.
Anspruch auf zusätzliche Leistungen gibt es im Bereich krankheits- und behinderungsbedingte Spezialausgaben, Fremdbetreuung von Kindern, Schule und Erstausbildung.

Jede zweite sozialhilfebedürftige Person in der Schweiz beansprucht laut einer OECD-Studie keine Leistungen. Viele wagen es nicht, obwohl sie sich weniger als früher schämen.

Die Scham ist in kleinen Gemeinden grösser. Deshalb wird Sozialhilfe vor allem in den Städten geleistet.

Caritas geht für die Schweiz von rund 850’000 Personen aus, die als arm bezeichnet werden. Doch nur 300’000 beanspruchen Sozialhilfe.

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