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“Die Durchsetzungsinitiative zielt auf die EMRK”

Swissinfo Redaktion

Die Ausschaffungsinitiative ist am 28. November 2010 angenommen worden. Die Frist zur Umsetzung beträgt gemäss dem Text der Initiative 5 Jahre. Nach 2 Jahren aber lancierte die SVP bereits die sogenannte Durchsetzungsinitiative, noch bevor die Parlamentskommissionen mit der Beratung der Umsetzungsgesetzgebung überhaupt erst begonnen hatten. Das zeigt, dass die SVP nach ihrem Erfolg mit der Ausschaffungsinitiative weiterhin die straffälligen Ausländerinnen und Ausländer als Wahlkampfvehikel benützen will.


Die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative ist im Übrigen vom Parlament beschlossen, in Anbetracht der neuen Initiative hingegen noch nicht in Kraft gesetzt worden.

Die Durchsetzungsinitiative hat ein sehr radikales Anliegen, indem Ausländerinnen und Ausländer unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer in der Schweiz und unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status selbst bei leichten Delikten automatisch und ohne Prüfung der Verhältnismässigkeit ausgeschafft werden sollen.

“Standpunkt”

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Der Deliktkatalog reicht dabei vom Einbruchdiebstahl bis hin zum Völkermord. Ein Mörder und jemand, der in einen Schuppen einbricht und ein Velo stiehlt, sollen bezüglich Ausschaffung gleich behandelt werden. Eine Seconda beispielsweise, die in der Schweiz aufgewachsen ist, nur eine unserer Landessprachen spricht und zur Heimat ihrer Eltern keine Beziehungen mehr hat, soll automatisch ausgeschafft werden.

Dasselbe Schicksal soll einen Familienvater ereilen, der ein geringes Delikt begangen hat und seine Familie in der Schweiz zurück lassen muss. Dass diese unter Umständen deswegen der Sozialhilfe verfällt, interessiert die SVP nicht.

Das sind bloss zwei Beispiele, die zeigen, dass die Initiative völlig unverhältnismässige Konsequenzen hätte und damit sowohl die Bundesverfassung als auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt.

Sie berücksichtigt dabei auch nicht die Tatsache, dass das Parlament seit der Annahme der Ausschaffungsinitiative das Strafgesetz bezüglich Ausschaffung erheblich verschärft hat und nur noch eine eingeschränkte Verhältnismässigkeitsprüfung im Einzelfall zulässt.

Der Solothurner Kurt Fluri ist seit 2003 Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen). Er ist unter anderem Vizepräsident der Staatspolitischen Kommission. Der Anwalt ist seit 1993 Stadtpräsident von Solothurn. Keystone

Das Parlament hat nämlich mit einem neuen Absatz 2 zum Artikel 66 StGB beschlossen, dass das Gericht nur ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen kann, wenn diese für die Ausländerin oder den Ausländer “einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen”. Zusätzlich soll dabei der besonderen Situation von Secondos und Secondas Rechnung getragen werden.

Undifferenziert und willkürlich

Sogar diese strenge Verhältnismässigkeitsprüfung wird von der SVP nicht mehr akzeptiert – die Ausweisung soll ohne jegliche Prüfung des Einzelfalls automatisch erfolgen!

Die Durchsetzungsinitiative erweist sich somit als völlig undifferenziert und willkürlich. Der Deliktkatalog, welcher eine Ausschaffung zur Folge hätte, geht über denjenigen der Ausschaffungsinitiative hinaus, die wie erwähnt von Volk und Ständen 2010 angenommen worden ist. Die undifferenzierte Gleichbehandlung von schweren und Bagatelldelikten sowie von Delinquenten ohne Rücksicht auf ihre persönliche Situation und ihre Herkunft verletzen die Verfassung und die EMRK. Früher oder später werden das Bundesgericht oder der europäische Gerichtshof für Menschenrechtsfragen entsprechende Ausweisungsentscheide aufheben (müssen).

Damit wird einmal mehr ein Konflikt zwischen Landesrecht und Völkerrecht entstehen. Wir gehen davon aus, dass dieser Konflikt von der SVP herbeigewünscht wird, um damit ihrer “Selbstbestimmungs-Initiative” Auftrieb zu verleihen. Damit soll die Priorität von Landesrecht gegenüber Völkerrecht in der Verfassung verankert werden.

Selbstverständlich muss dies früher oder später zur Kündigung der EMRK und damit zwangsläufig auch zum Austritt der Schweiz aus dem Europarat führen. Wir wären damit das zweite Land seit dem Austritt Griechenlands unter der Militärdiktatur… Offenbar will die SVP unser Land um jeden Preis in die Isolation treiben.

Bilaterale Verträge erneut in Gefahr

Ein Aspekt, der auch von der Wirtschaft bis heute absolut vernachlässigt wird, ist der Zusammenhang zwischen der Durchsetzungsinitiative und dem Personenfreizügigkeits-Abkommen. Gemäss diesem dürfen EU-Bürgerinnen und -Bürger nur ausgewiesen werden, wenn sie schwere Delikte begehen und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen.

Mit der undifferenzierten Durchsetzungsinitiative, die Bagatelldelikte gleich behandelt wie schwere, ist völlig klar, dass mit der Ausweisung entsprechender Delinquenten früher oder später das Freizügigkeitsabkommen verletzt und damit einmal mehr die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU gefährdet werden.

Es ist deshalb unverständlich und naiv von der Wirtschaft, wenn sie sich von einer aktiven Bekämpfung der Durchsetzungsinitiative distanziert, weil diese angeblich keine wirtschaftspolitische Relevanz aufweise.

Rechtsstaat in Frage gestellt

Die SVP-Initiative verletzt ferner das Gewaltenteilungsprinzip: Mit dem Automatismus nimmt sie der dritten Gewalt, der Judikative, jeglichen Ermessensspielraum. Sie masst dabei der Legislative Kompetenzen der Justiz an und bindet dem Richter die Hände. Damit wird aus der Gesetzgebung durch Volk und Parlament eine Volksjustiz, und damit werden die drei staatspolitischen Gewalten auf zwei reduziert.

Abgesehen vom inhumanen Ziel birgt die Durchsetzungsinitiative somit sowohl rechtsstaatlichen als auch staats- und wirtschaftspolitischen Sprengstoff. Sie würde aus unserem Rechtsstaat das Gegenteil machen, indem anstelle der Verhältnismässigkeit eine willkürliche, undifferenzierte Ausschaffungspraxis träte, die zudem das Gewaltenteilungsprinzip krass verletzt.

Die Durchsetzungsinitiative geht deshalb weit über eine ausländerrechtliche Frage hinaus: Sie stellt unser Land vor grundsätzliche Fragen, welche an der Stabilität unseres Rechtsstaates rütteln und unser Land international zu isolieren drohen.


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