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Irak – Chronik eines angekündigten Bürgerkrieges

Gute Ausrüstung, schlechte Moral: Irakische Truppen vermochten die hochmotivierten Isis-Jihadisten vielerorts nicht standhalten. Reuters

Die Offensive der Isis-Jihadisten in Irak habe sich abgezeichnet, sagt Riccardo Bocco. Laut dem Genfer Nahost-Experten liegt der Schlüssel für eine Befriedung vor allem in Washington. Bis zum Eintritt einer Beruhigung würden Jahre vergehen, erwartet er.

Nach rund zehn Tagen ihrer Offensive rückt die Islamistengruppe Islamischer Staat in Irak und in Grosssyrien (Isis) weiter Richtung irakische Hauptstadt Bagdad vor.

Ein rasches Ende des Bürgerkriegs ist für  den Wissenschaftler vom Institut für Internationale Studien und Entwicklung an der Universität Genf (IHEID) nicht in Sicht.

swissinfo.ch: Sind Sie vom Vormarsch der Isis-Kämpfer in Irak überrascht?

Riccardo Bocco: Die Konflikte in Syrien und Irak haben es verschiedenen Jihadistengruppen ermöglicht, aufzurüsten und sich zu verstärken.

Mich überraschen nicht so sehr die Ereignisse, sondern vielmehr die Debatten darüber. Ein Teil der Medien erklärt die aktuelle Krise mit dem Abzug der US-Truppen aus Irak. Dabei steht die Invasion der USA in Irak 2003 am Ursprung der Katastrophe.

Ein Beispiel: Die USA beauftragten im letzten Jahr James Steele, der die Todesschwadronen im mittelamerikanischen Staat El Salvador eingeführt hatte, dieselben Methoden in Irak anzuwenden. Dies belegten Recherchen der britischen BBC und des Guardian. Zuvor hatten die US-Truppen den sunnitisch dominierten Verwaltungs- und Militärapparat Saddam Husseins zerschlagen.

Angesichts des darauf folgenden sunnitischen Aufstandes bildete Steele schiitische Todesschwadronen, basierend auf dem Modell der Aufstandsbekämpfung Frankreichs in Algerien Ende 1950er-/Anfang 1960er-Jahre aus.

Die USA sind mitverantwortlich für das heutige Chaos. Es ist die Chronik eines angekündigten Bürgerkriegs.

Angesichts des Vormarschs der Isis-Kämpfer im Irak ist US-Präsident Obama bereit, mit gezielten Militärschlägen aus der Luft einzugreifen.

“Wir sind bereit, gezielte und präzise militärische Schritte zu unternehmen, wenn wir feststellen, dass die Situation vor Ort es erfordert”, sagte Obama.

Laut US-Medien starteten F18-Kampfjets der US-Luftwaffe zu ersten Überwachungsflügen über Gebiete, die von Isis-Kämpfern besetzt sind.

Die Entsendung von Bodentruppen schloss Obama allerdings aus. “Amerikanische Truppen werden nicht in den Kampf im Irak zurückkehren.”

Dafür will er bis zu 300 US-Militärberater in den Irak schicken.

Laut dem TV-Sender CNN handelt es sich bei den Militärberatern um drei Eliteeinheiten: die Army Rangers, die als Speerspitze der Kommandotruppen des Heeres gelten; Green Berets, die im feindlichen Hinterland Ziele für Angriffe lokalisieren können; und Navy Seals, die Spezialtruppe der US-Marine.

Erste Priorität der USA ist laut Obama aber der Schutz der im Irak stationierten Amerikaner. Allein die Botschaft in Bagdad beschäftigt rund 5000 Mitarbeiter.

US-Aussenminister John Kerry wird noch diese Woche in Irak erwartet. Dort soll er die diplomatischen Bemühungen zur Entschärfung des Konfliktes vorantreiben.

swissinfo.ch: Isis-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi, gilt als neuer Bin Laden. Ist er das?

R.B.: Al-Baghdadi ist nicht Bin Laden. Sein Plan bezieht sich auf die Region, nicht die ganze Welt, zumindest im Moment. Er sagt: “Ich will, ausgehend vom Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg, die Landkarte des Mittleren Orients neu zeichnen. Ihr aus dem Westen habt die Region gemäss euren Interessen aufgeteilt. Ihr habt euer Versprechen von 1916 an die Haschemiten zur Gründung eines arabischen Königreichs nicht eingehalten. Stattdessen habt ihr mitgeholfen, diktatorische Staaten und den Staat Israel zu installieren. Wir wollen diese alte Ordnung zerschlagen!”

swissinfo.ch: Iraks Premier Nouri al-Maliki wird grosse Verantwortung am Debakel zugeschrieben. Geht er aber nicht gestärkt aus dem blutigen Kampf zwischen Sunniten und Schiiten hervor?

R.B.: Genau hier liegt das Drama. Der Konflikt zwischen den beiden Gruppen ist keine historische Konstante, sondern wuchs aus der Rivalität zwischen dem Iran unter Khomeini und Saudiarabien, die sich am Krieg zwischen Iran und Irak von 1980 bis 1988 entzündet hatte.

Danach versuchten die USA, die Region mit Waffen zu demokratisieren. Der Sturz Saddam Husseins war der erste Schritt dazu. Dazu ist es keinem Präsidenten der USA gelungen, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu entschärfen. Dies hätte die Islamisten in der Region geschwächt, weil ihrer Propaganda ein gewichtiges Argument abhanden gekommen wäre.

Weiter unterhielten die USA bis vor einem Jahr enge Beziehungen zu Saudiarabien, einem Regime, das von vielen in der arabischen Welt als  illegitim und autoritär gesehen wird.

Schliesslich hat die internationale Gemeinschaft in den letzten drei Jahren dem syrischen Herrscher Baschar al-Assad gewährt, im Kampf gegen die Opposition alle roten Linien zu überschreiten. 

swissinfo.ch: Spielt der Zugriff auf das irakische Erdöl eine Rolle für die USA?

R.B.: Die Frage der Energie-Ressourcen bleibt wichtig. Aber man unterschätzt etwas anderes: Der militärisch-industrielle Komplex hat im Vorderen Orient ein unübertroffenes Experimentierfeld gefunden.

Keine andere Weltregion hat eine derartige Kontinuität an bewaffneten Konflikten mit so grosser Intensität gesehen. Dies erlaubt, Waffen zu testen und in grossen Mengen zu verkaufen. 

swissinfo.ch: Wer kann den Zerfall Iraks und Syriens verhindern?

R.B.: Ich fürchte, dass wir einem Konflikt entgegen gehen, der mehrere Jahre dauern wird. Man darf nie vergessen, dass die extreme Brutalität der Kriege in den beiden Ländern fürchterliche Mechanismen von Rache und Hass erzeugt haben. Es wird mindestens zwei, drei Generationen dauern, bis die eitrigen Wunden verheilt sind.

Die USA könnten einen Dialog zwischen Iran und Saudiarabien fördern. Ohne eine solche Initiative droht die Situation vollends zu entgleiten, mit dem Resultat der fortgesetzten Zerstörung Iraks und Syriens. Und das unter dem Vorwand des Kriegs zwischen Sunniten und Schiiten. Auch wird die Religion instrumentalisiert, in dem sie zu einem zusätzlichen Instrument der Legitimation erhoben wird. Alle wissen, dass dies nicht stimmt – Religionszugehörigkeit ist nicht die Ursache des Konflikts.

Hinter dem Wahnsinn und der Brutalität des Projekts eines transnationalen Kalifats der Isis steckt auch die Notwendigkeit, die staatlichen Gebilde in dieser Region zu überdenken. Nach dem Scheitern von Staaten dort können Konföderationen den verschiedenen Gruppen, Clans und Stämmen der Region einen Rahmen zur Befriedung der Konflikte bieten.

swissinfo.ch: Markiert die Annäherung zwischen den USA und Iran eine strategische Neuausrichtung in der Region?

R.B.: Was wir erleben, ist eher ein Wiederausgleich. Für die USA steht nach dem Krieg in Syrien ein Fallenlassen Saudiarabiens ausser Frage, denn dieses ist zum besten Verbündeten Israels avanciert. Mit Iran haben die USA eine Karte der Mediation in der Hand, an der sich die Europäer beteiligen könnten.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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