«Warum muss man die Schweiz immer mit Klischees in Verbindung bringen?»

Die französische Künstlerin Manon Daviet hat Textilbilder für die Zimmer des Grand Hotel Belvedere in Wengen entworfen. Ihre Motive holen das Beste aus der Schweiz heraus, deren Kultur ihrer Meinung nach nicht mit Klischees verwechselt werden darf.
In Wengen, einem charmanten Skiort im Herzen des Berner Oberlandes, steht das Grand Hotel Belvedere. Das Luxushotel liegt hoch über dem Lauterbrunnental und bietet einen atemberaubenden Blick auf die Jungfrau. Die Aussicht ist einfach traumhaft.

Das Hotel, das aus zwei Gebäuden besteht, wurde im vergangenen Jahr renoviert. Das erste Gebäude öffnete im Dezember 2024 seine Türen. Das zweite empfängt die Gäste ab dem 6. Mai 2025. Insgesamt gibt es 90 Zimmer, deren Design von der Welt der Alpen inspiriert ist.
In diesem Hotel finden nun die Textilbilder der 31-jährigen französischen Künstlerin Manon Daviet ihren Platz. Die junge Frau stammt aus Annecy und kennt die Alpenlandschaft gut. Für den Auftrag entwarf sie Gemälde, die die Wände dieser Zimmer schmücken.
Die Idee von Reinheit
«Ich erhielt den Auftrag von dem in Paris ansässigen Kunst- und Designstudio Saint-Lazare. Marie Veidig, die Vertreterin des Studios, fungierte als Bindeglied zwischen mir und der Hotelleitung», erzählt die Künstlerin. «Schon beim ersten Briefing sagte sie mir: ‹Du musst dir wirklich eine paradiesische, sehr unberührte Landschaft vorstellen.› In Wengen gibt es viele Orte, die für den Autoverkehr gesperrt sind. Das Dorf und das Hotel spiegeln die Idee einer beruhigenden Schweiz sehr gut wider. Das Studio Saint-Lazare wollte daher nicht, dass meine Textilbilder von dieser natürlichen Umgebung abgekoppelt werden.»
Daviet befolgte den Rat: «Ich stellte mir den Ort als eine grüne Oase vor. Die erste Idee, die mir kam, war die Reinheit, die mir als Leitmotiv diente und meine Vorstellungen nährte, die nicht weit von der meiner Kindheit in Savoyen entfernt sind. Ausserdem habe ich viel mit Fotos gearbeitet, die Wengen und das Hotel zeigen.»
Steinbock, Chalet, Kuh, Alpglocke, Käse, Schnee, Schaf und ein Gipfel: das Matterhorn. Die Bilder von Manon Daviet zeigen all diese Motive. Aber sind das nicht alles Klischees, die so sehr zum Image der Schweiz passen?
Nicht alle leben in Chalets
«Warum muss man die Schweiz immer mit Klischees in Verbindung bringen? Nicht alle Schweizer leben in Chalets, neben einem Glas Milch oder einer Tafel Schokolade», sagt Daviet.
«Meine Bilder zeigen Landschaften oder lokale Traditionen, das ist alles. Zum Beispiel die Herstellung von Käse. Man kann darüber lachen, aber ich sehe darin einen Stolz. Ich bin immer noch empfänglich für die Schönheit eines Handwerks. In meinen Motiven finde ich Orte, Tiere und Gegenstände wieder, die ich selbst als Kind gekannt habe.»

Ausländische Künstler:innen und Schriftsteller:innen haben unterschiedliche wie unerwartete Ansichten über die Schweiz. Der belgische Romancier Patrick Roegiers zum Beispiel stellt eine Besessenheit von Geld in diesem Land fest. Davon zeugt sein humorvolles Buch «Le roi, Donald Duck et les vacances du dessinateur» (Der König, Donald Duck und die Ferien des Zeichners). In diesem fiktiven Text stellt er sich ein Treffen zwischen Hergé, dem berühmten Autor von «Tim und Struppi», und Leopold, dem König der Belgier, im Jahr 1948 am Genfer See vor.
Die beiden Männer schnappen frische Luft. Ein Schweizer, ein Möchtegernpolizist, stellt sie zur Rede:
– Haben Sie eine Genehmigung, um auf den See zu schauen?
– Wie viel kostet das?
– 50 Schweizer Franken
– Das ist nicht billig
– Alles muss bezahlt werden
– Wir haben es aufgeschrieben
– Kein Geld, keine Schweiz
– Was für ein schönes Land!
Der französische Essayist Pascal Bruckner übersetzt in einem seiner Bücher das Kürzel CH mit den Worten: «Hypnotische Eidgenossenschaft» (Conféderation hypnotique). Sein Humor ist eher liebevoll: «Die Schweiz ist mein Metaversum, sie lässt in mir ein Staunen entstehen, zu dem sich ein Gefühl der Sicherheit gesellt, das ich nirgendwo sonst in Europa finde», hat er in einem französischsprachigen Artikel von SWI swissinfo.ch gesagt.
«Ich habe keine Sekunde an Heidi gedacht»
Was sagt ein:e Bewohner:in der Welt über die Schweiz? Dieser Frage kann man sich kaum entziehen, wenn man eine künstlerische Arbeit für ein Hotel macht, das für unzählige Ausländer:innen ein Durchgangsort ist.
Die Antwort, die einem in den Sinn kommt, ist Folklore, ein eingängiges Thema. Nehmen wir Maienfeld, Heidis Heimatort, das Mini-Disneyland der Schweiz, das bei Tourist:innen sehr beliebt ist.
«Oh nein, als ich den Auftrag erhielt, habe ich nicht eine Sekunde daran gedacht», sagt Daviet. «Stattdessen fühle ich mich von den Poyas [gezeichnete oder gemalte Bilder, die den Alpauftrieb darstellenExterner Link] angezogen und inspiriert, einer typisch schweizerischen, naiven Volkskunst, die ich sehr schätze. Meine Bilder können übrigens wie die einzelnen Sequenzen einer Poya gelesen werden. Sie erzählen von einem einfachen Leben und dem Glück, das sich daraus ergibt.»
Die Berge hat Daviet auf ihren Wanderungen lieben gelernt, als sie von Frankreich in die Schweiz reiste und das Gefühl hatte, dass die Grenzen unter ihren Füssen wie von Zauberhand verschwanden. «Im Gegensatz dazu änderten sich die Dinge, wenn ich nach Genf ging», sagt sie. «Die Stadt bot mir ein grosses, manchmal schrilles Freizeitangebot. Es war nicht mehr wirklich ‹meine› Schweiz.»
Editiert von Samuel Jaberg; Übertragung aus dem Französischen mit der Hilfe von Deepl: Janine Gloor

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