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Tabu beginnt zu bröckeln

Auffangnetz für Selbstmörder bei der Berner Münster-Plattform. swissinfo.ch

In der Schweiz nehmen sich jedes Jahr 1500 Menschen das Leben. Jetzt sollen neue Wege zur Senkung der hohen Suizidrate gesucht werden.

Mit einer täglichen Selbstmordrate von rund vier Menschen nimmt die Schweiz international eine unrühmliche Spitzenposition ein. An Suizid sterben hierzulande mehr Menschen als im Strassenverkehr. Die Selbstmord-Versuche dürften zehnmal höher liegen.

Dennoch liegen nach neusten internationalen Statistiken einige Länder, so zum Beispiel die baltischen Staaten, Russland und weitere frühere Ostblockstaaten sowie Ungarn und Finnland – die traditionellen Anführer der länderspezifischen Selbstmord-Raten – noch vor der Schweiz.

Fachleute diskutieren nun an einem ersten nationalen, interdisziplinären Suizid-Kongress in Bern über Möglichkeiten für eine verbesserte Suizid-Prävention. Gleichzeitig soll damit auch die Tabuisierung des Selbstmordes überwunden werden. Organisatoren des zweitägigen Kongresses (7. und 8. Mai) sind kirchliche Kreise.

Keine einfachen Rezepte

Trotz der hohen Selbstmordrate gibt es in der Schweiz bisher keine grosse Organisationen, die Menschen mit Suizid-Absichten oder von Selbstmord-betroffene Familien beraten. Ein einfaches Rezept gegen Suizid gebe es nicht, sagen Experten. Dennoch hofft Andreas Stauffer vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK), dass der Suizid-Kongress in Bern Auslöser für eine Art “Suizid-Dachorganisation” sein wird.

Laut Stauffer ist die Protestantische Kirche bis jetzt die einzige Institution, die sich bemüht hat, Selbstmord-Gefährdeten beizustehen; dies mittels einer Website zum Thema Suizid und der Seelsorge.

“Wir brauchen dringend einen Notruf und Beratungspersonal”, sagt der protestantische Vikar und Internet-Seelsorger Ebo Aebischer gegenüber swissinfo. “Im Moment bin ich die einzige Person im Land, die sich um Leute kümmert, die um ein Selbstmordopfer trauern – und dies ist eine äusserst schmerzhafte Trauer.”

Vor allem Ältere töten sich

Nach Angaben von Präventions-Mediziner und Nationalrat Felix Gutzwiller nehmen sich Jugendliche weniger häufig das Leben als noch Mitte der Achtzigerjahre, als man in der Altergruppe bis 25 einen sprunghaften Anstieg feststellen musste. Generell sei die Sterblichkeit auf Grund von Selbstmorden in den letzten 50 Jahren um rund einen Drittel gesunken.

Zur Entwarnung gebe dies aber noch lange keinen Anlass, betont Gutzwiller. Denn vor allem alte Menschen nähmen sich häufiger das Leben als früher. In dieser Altersgruppe beobachte man unter anderem eine höhere Sterblichkeit an Suizid-Fällen. Dies liege vor allem daran, dass alte Leute in zwei von drei Fällen einem verübten Selbstmord-Versuch auch tatsächlich erliegen.

Mehr Männer als Frauen

Die Suizidrate ist bei Männern mehr als doppelt so hoch wie bei Frauen. Junge Männer seien “erfolgreicher” bei ihren Selbstmord-Versuchen als Frauen, sagt Gutzwiller gegenüber swissinfo. Sie würden eher so genannte harte Methoden anwenden. Frauen hingegen überlebten Suizid-Versuche viel öfter. “Bei Frauen ist der Suizid-Versuch oft ein letzter Hilferuf”.

Tabu brechen

Eines der Hauptanliegen der Suizid-Konferenz sei es, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen, damit es nicht weiter unter den Teppich gekehrt werden könne, sagt Hans-Balz Peter, Sozialethiker beim SEK. “Die Leute wissen nicht, wie sie sich gegenüber Selbstmord-betroffenen Familien verhalten sollen. So fühlen sich diese einsam und sind nicht fähig, darüber zu sprechen.”

Zu wenig Wissen

Im Prinzip wisse man über das Phänomen des Suizids noch fast gar nichts, sagt Internet-Seelsorger Ebo Aebischer. Er ist daran, eine nationale Organisation zu gründen, welche die Erforschung der Problematik und die Schulung von Fachpersonal fördern soll. Die Berner Konferenz soll dabei behilflich sein.

Mit weltweiten Ausbildungs-Programmen möchte Aebischer sicherstellen, dass die Zahl jener, die freiwillig aus dem Leben scheiden, in Zukunft drastisch sinkt.

Jean-Michel Berthoud

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