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Täterorientierung lenkt vom Problem ab

Um Kindermissbrauch zu verhindern, sollte man sich mehr am Opfer und weniger am Täter orientieren. swissinfo.ch

Die Aufdeckung von Missbräuchen von Kindern löste eine mediale Schockwelle aus. Vor allem die von katholischen Geistlichen begangenen: Die Täter rücken ins Zentrum. Die Stiftung Kinderschutz Schweiz findet dies problematisch. Denn Opfer und Gefährdete treten daneben in den Hintergrund.

Die Stiftung Kinderschutz Schweiz befasst sich mit der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen, zum Beispiel beim Kindersex-Tourismus oder bei der Sicherheit im Internet. Um die Probleme zu lösen, sei es wichtig, aus der Perspektive der Gefährdeten zu sehen, und sich nicht derart auf die Täterorientierung zu konzentrieren, die zurzeit in den Medien so stark im Vordergrund steht.

Stiftungssprecherin Cordula Sanwald betont, ihre Stiftung befasse sich weniger mit den Tätern, sondern beuge aus der Sicht der Kinder und der Opfer individuell und institutionell vor.

swissinfo.ch: Stellt die jüngste Schockwelle rund um die Aufdeckung massiver auch vergangener Missbräuche die bisherigen Probleme in den Schatten?

Cordula Sanwald: Die Grundproblematik der sexuellenr Ausbeutung und der Gewalt an Kindern bleibt bestehen, ob im Tourismus oder bei der Vernachlässigung.

Zur Zeit funktioniert die Medieninformation sehr täterorientiert. Das Kindswohl und die Opferperspektive rücken damit in den Hintergrund. Darin liegt aus unserer Sicht die Hauptproblematik der derzeitigen Diskussion.

swissinfo.ch: Viele der Missbräuche, die jetzt ans Licht kommen, liegen Jahrzehnte zurück. Gab es früher mehr Missbrauchsfälle als heute?

C. S: So wie man heute mit Sexualität umgeht, und so wie sich die Gesellschaft entwickelt hat, würde ich sagen, dass es früher wohl mehr Fälle von sexueller Gewalt gab. Die Tabuisierung war stärker, die Möglichkeiten, drauf zu blicken, waren kleiner, es gab weniger Prävention.

Heute greifen unsere Massnahmen mit Sicherheit, die Zahlen der letzten Jahre bleiben relativ konstant. Gegenwärtig kann man viel schneller reagieren.

swissinfo.ch: Zur Zeit spricht alles von den Missbräuchen in der Kirche. Geht es aber um die konkreten Zahlen der Missbrauchs-Fälle: Wo ist die Gefährdung heute am grössten?

C. S.: Viele Untersuchungen zeigen, dass die grösste Gefährdung für Kinder, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, immer noch in ihrem nahen sozialen Umfeld liegt. Mit anderen Worten Familie, grösserer Freundeskreis, Bekannte – überall dort, wo sich Kinder auch in der Freizeit bewegen.

Statistisch gesehen stellt also der Fremdtäter, der das Kind anfangs noch nicht kennt, nicht das grösste Problem dar. Grundsätzlich können alle Lebensräume, die in sich abgeschlossen sind, seien das Internate, Kirche, Orte, wo man schlecht über die Mauern blicken kann, sexuelle Gewalt begünstigen.

swissinfo.ch: Wie kann Ihre Stiftung dazu beitragen, dass begangene Missbräuche nicht einfach von den Verantwortlichen ausgesessen werden, bis die Medienwelle wieder abgeflacht ist?

C. S.: Auf konkrete Fälle können wir nicht einwirken. Grundsätzlich betreiben wir aber ein starkes politisches Lobbying. Wir versuchen beispielsweise, diese Themen ins Parlament einzubringen. Wir bemühen uns, politische Mitstreiter für die Prävention von sexueller Gewalt an Kindern zu gewinnen und auf die Gesetzgebung einzuwirken.

Zum anderen haben wir verschiedene Präventionsprojekte entwickelt wie zum Beispiel den Kinderparcours ‘Mein Körper gehört mir!’ für Primarschulen. Diese Projekte richten sich zwar an Kinder. Nie werden aber nur die Kinder angesprochen, eingebunden werden stets auch die Erziehenden , und Berufspersonen wie Lehrer oder andere, die mit Kindern arbeiten..

Unsere Stiftung arbeitet nicht fallbezogen, wir intervenieren nicht in konkreten Fällen oder arbeiten nicht direkt mit den Kindern. Allerdings bieten wir Ratsuchenden Beratung und Triage zu entspechenden Fachstellen an und geben Eltern Ratschläge, wie sie Ihre Kinder stärken können.

swissinfo.ch: Setzt sich die Stiftung denn dafür ein, dass künftig beim Unterricht zum Beispiel klare Grenzen gesetzt werden? Gibt es Richtlinien, was noch spontane Herzlichkeit ist und was darüber hinausgeht?

C. S.: Wir unterscheiden zwischen individueller und institutioneller Prävention. Einerseits möchten wir das Selbstbewusstsein der Kinder stärken, damit sie sich bis zu einem gewissen Grad auch selber schützen können. Aber die Verantwortung für den Schutz vor sexueller Gewalt liegt immer bei den Erwachsenen und den Institutionen, die mit Kindern arbeiten. Deshalb verlangen wir künftig zwingend Verhaltens-Kodizes. Die müssen erarbeitet werden, bindend und allfällig sogar arbeitsplatzrelevant sein.

Institutionen, die mit Jugendlichen zu tun haben, sollten sich schon im eigenen Interesse daran halten. Das Schweizer Bündnis gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen, in dem sich die Stiftung Kinderschutz Schweiz mit der Schweizer Kriminalprävention, Terre des Hommes -Kinderhilfe und Swiss Olympic sowie dem Bundesamt für Sport zusammen getan hat, widmet sich explizit der Prävention von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen.

Einer dieser Partner stellt einen Verhaltenskodex zur Verfügung, der ganz klar auf Angestellte, Freiwillige oder andere Personen ausgerichtet ist, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten mit Kindern in Kontakt sind.

Das sind aber nicht konkrete Verhaltensregeln, sondern es handelt sich um einen allgemeinen Rahmen für das Verhalten Erwachsener gegenüber nicht eigenen Kindern. Zum Beispiel wird nicht festgelegt, ab welchem bestimmten Moment ein Turnlehrer in die Umkleidekabine darf. Die Institutionen, die diesem Kodex folgen, müssen auf der Basis der Kinderrechte diese Grundsätze für ihre Institution weiter erarbeiten, die Betreffenden schulen und als verbindlich erklären. Alle Mitarbeitenden sollten zudem eine Verpflichtungserklärung zu dieser Haltung unterzeichnen.

swissinfo.ch: Nehmen wir den Fall, ein Turnlehrer geht in die Umkleidekabinen, um für Ordnung zu sorgen, weil sich zwei Schüler immer wieder in die Haare geraten. Geht er rein, heisst es, er sei pädophil, geht er nicht, kommen mindestens zwei blutend heraus, weil er nicht eingeschritten ist.

C.S.: Er kann die Türen offen lassen, oder er geht nicht allein rein, und nimmt jemanden mit. Generell wichtig ist, dass man zu verhindern versucht, dass Situationen überhaupt entstehen können, die zu Missverständnissen oder im Ernstfall zu sexueller Gewalt an einem Kind führen können. Durch eine Grundhaltung in Institutionen, die sexuelle Gewalt thematisiert und Verhaltensregeln gegenüber Kindern einfordert, ändert das Ambiente, wie Untersuchungen zeigen.

Und es soll erreicht werden, dass Menschen mit pädophiler Neigung oder Menschen, die sexuelle Gewalt an Kindern irgendwie anstreben, sich in diesem Umfeld gar nicht gerne bewegen, respektive nicht mehr bewegen werden.

Alexander Künzle und swissinfo.ch

Die Stiftung hat zum Zweck Kinder vor Gefährdung, Vernachlässigung, Ausbeutung und vor jeglicher Gewalt zu schützen.

Sie hat das Ziel, die seelische, psychische, körperliche und sexuelle Integrität und die Würde der Kinder zu wahren, ihre Rechte durchzusetzen, ihre individuelle Entfaltung und ihre soziale Integration zu fördern.

Die Stiftung orientiert sich bei ihrer Tätigkeit an anerkannten rechtlichen und wissenschaftlichen Grundlagen und hat gemeinnützigen Charakter.

Stiftungspräsidentin ist Jacqueline Fehr, sozialdemokratische Nationalrätin (Zürich).

Cordula Sanwald ist Kommunikationsbeauftragte der Stiftung.

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