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Über die Yoga-Playlist zum Erfolg

Band
Orhan Bey

Streaming ist heute der Standard des Musikhörens. Mit weitreichenden Folgen. Nicht alle sind schlecht. Ein Porträt von Edmund Kenny, dem Schweizer Kopf der Band Kerala Dust.

Unsere Musiksammlungen sind alle gleich gross, mit riesigen Plattenregalen kann niemand mehr prahlen. Die Streamingdienste bieten jeweils rund 70 Millionen Titel an, die in jede Hosentasche passen. In der Schweiz ging Marktführer Spotify 2011 online. Und dann wurde bald alles anders. Edmund Kenny, Kopf und Sänger der schweizerisch-englischen Band Kerala Dust, sagt es so: «In den Siebzigerjahren hast du vielleicht Hunderttausende von Platten verkauft, aber vor tausend Leuten gespielt. Heute verkaufst du 600 Stück, aber zu den Konzerten kommen unter Umständen 2000 Leute.»

Da spielen, wo gestreamt wird – nicht in den Zentren

Er redet aus Erfahrung. Wir sprachen im März erstmals miteinander, da kehrte Kenny mit Kerala Dust von Konzerten in Barcelona und Madrid zurück. Ende Mai, beim zweiten Gespräch, erzählt er von Auftritten in Izmir und Istanbul. «Und Winterthur! Da haben wir zum ersten Mal gespielt. Unsere Booker sagten, wir würden zu viel in Zürich oder allenfalls in Basel auftreten.» Next Stop: Tel Aviv. In jeder Stadt kann Kenny nachsehen, wie viele Menschen pro Monat seine Musik hören. Auch normale User:innen haben bei fünf Städten Einsicht: In Istanbul schalten zum Beispiel 23’497 monatliche Hörer:innen ein, in Izmir 7’858, in Zürich sind es mit 7’883 eine Handvoll mehr.

Kenny hat bei Spotify erweiterten Zugriff, er sieht die Zahlen aus 50 Städten. Das hilft bei der Wahl, wo es sich lohnt zu spielen, diese Art der Marktforschung hätte früher Unsummen gekostet. «Aber Vorsicht, gerade die hohen Zahlen können täuschen. Manche Bands rechnen mit hohen Ticketverkäufen, so bald nur gerade ein Song fünf oder zehn Mal so viele Streams hat wie die anderen, weil er vielleicht auf TikTok verwendet wurde. Das ist gefährlich, plötzlich spielt man vor halbleeren Hallen.»

Die Aufmerksamkeit auf den Plattformen ist nicht gleichbedeutend mit echten Menschen vor Ort und führt nicht zwingend zu mehr Einnahmen. Aber Social Media Verkehr schadet nie:  Die Algorithmen von Apple Music, einem Konkurrenten von Spotify, bevorteile in den Playlists Musiker:innen mit grosser TikTok-Gefolgschaft, heisst es in Hintergrundgesprächen.

Doch Moment: Sie haben noch nie von Kerala Dust gehört, der jungen Band aus Zürich und London, die in Berlin eine Studiobasis hat? Dann gehören Sie nicht zu den mehr als 15 Millionen User:innen, die sich den Song «Nevada» auf Spotify angehört haben. Es kann sein, dass Sie Teil der halben Million monatlicher Hörer:innen sind, ohne es zu merken, zum Beispiel weil ein Lied von Kerala Dust in einer mehrstündigen Playlist auftaucht.

Das sind beeindruckende Zahlen – vor Streaming hätten solche Verkäufe schier Weltruhm bedeutet, aber selbst in Zeiten, in denen Spotify und Co. den Standard definieren, sind die Zugriffe auf Kerala Dust beachtlich. Erst recht für eine Band, deren gedrosselte, technoide Stücke Zeit brauchen und die digital verkürzte Aufmerksamkeit herausfordern.

Band Auftritt
Pablo Gallardo/Redfern

In der Yoga-Playlist gelandet

Kerala Dust besprüht den Frontallappen mit mehr Musse, bis die Sonne aufgeht oder länger. Mit Synthesizer, Gitarre und der ruhigen Stimme von Edmund Kenny. Es ist Techno aus dem heutigen Geist der Achtsamkeit, gepaart mit der fernen Sehnsucht nach der Geschichte dieser flächigen, leicht experimentellen, rhythmisch aber kontrollierten Musik, wie sie deutsche Bands aus den Siebzigerjahren liebten. Das hiess damals Krautrock, etwa von Can aus Köln, oder von Kraftwerk aus Düsseldorf, bevor sie mit Elektropop berühmt wurden.

In England sind Can bis heute populärer als auf dem europäischen Festland. Und in England wurde Edmund Kenny geboren, in London hat er später Pop studiert, zwischenzeitlich war er in der Schweiz aufgewachsen, wo er wieder lebt. Wie er sich die hohen Zugriffszahlen auf seine Band erklärt? «Das ist wohl so ein Lifestyle Ding, denn uns berichten oft Leute, dass sie unsere Musik beim Yoga hören. Vermutlich sind wir mit älteren Stücken in entsprechende Yoga-Playlisten gerutscht und von dort erst in personalisierten Listen der einzelnen Hörer:innen.»

Die Playlist ist die wichtigste Darreichungsform des Streamingzeitalters. Sie verändert die Musik grundlegend. Die von Menschen zusammengestellten Playlists liefern oft rein funktionale Musik und sorgen für die richtige Stimmung, vom Yoga über die Beschallung im Detailhandel bis zum Motivationsschub vor dem Meeting oder natürlich den zahllosen Listen nach stilistischen Vorlieben (ist Ihnen mehr nach «Rock aus dem Jahr 1978» oder nach «Deutschrap Sommerhits«?).

Die algorithmisch aufgrund des eigenen Nutzerverhaltens erstellte Playlist liefert derweil einen Strom endloser, aber ähnlicher Musik. Weil Sie den so retroseligen wie wunderbar zeitgenössischen Pop von Harry Styles hören, spült Ihnen der Algorithmus wohl auch Shawn Mendes in die Liste. Und wenn Sie mit den Kindern ein Konto teilen, müssen Sie eben erst Hörspielserien wie «Die drei Fragezeichen» oder Teeniepop wie Gayle aus ihrem personalisierten Geschmacksbad herausfischen (für einen Aufpreis lassen sich die Konten pro Haushalt trennen).

Externer Inhalt

Edmund Kenny sieht noch mehr Daten bei Spotify, etwa wie die Leute auf die Band aufmerksam werden: «Wir wissen, ob die Hörer:innen uns in ihren eigenen Musikbibliotheken hören, ob auf unserer Künstlerseite bei Spotify, ob sie in algorithmischen Listen auf uns gestossen sind oder in den Editorial Playlists.» Sogar das Geschlecht und die Altersgruppe sind für Kenny erkennbar..

Kuratiertes Hören

Die Editorial Playlists sind die wertvollsten. Sie machen bei Spotify laut Schätzungen 40 Prozent des Angebots aus und werden von menschlichen Redaktoren zusammengestellt. Die Algorithmen bestimmen also nicht alles. Diese Redakteur:innen auch Playlister genannt, verfügen über eine Macht, die kein Radio DJ je hatte, von Kritiker:nnen ganz zu schweigen. Streaming habe die Gate Keeper abgeschafft, die medialen Türsteher seien tot. Schluss mit der Macht weniger, die über den Geschmack vieler entscheiden!  Die Playlister sind der Beweis, dass das Gegenteil eingetreten ist. Doch wie kommt man in die grossen Listen rein?

Als Einzelkünstler steht man auf verlorenem Posten, das war schon immer so. Es sind die Plattenfirmen, die diese Arbeit bisher erledigt haben. Neu ist, dass auch die Vertriebe ins Spiel kommen, die früher sich einzig darum kümmerten, dass die Tonträger in die Läden kamen. Heute funktionieren manche Vertriebe fast wie Plattenfirmen, zahlen Vorschüsse und gehen auf Playlister zu, um ihre Bands zu unterzubringen.

Mann singt
Pablo Gallardo/Redfern

Für eine Band wie Kerala Dust hat das auch Vorteile, sagt Edmund Kenny: «Die Verträge mit einem Vertrieb sind für die Künstler viel, viel besser, weil ein Vertrieb im Schnitt nur zwanzig Prozent der Gewinnen abzieht. Und die Vorschüsse berechnen sich einzig nach den bereits vorhandenen Streamingzahlen». Das heisst: Alle bieten ungefähr dieselbe Summe. Bei den Plattenfirmen gab es jeweils Riesenunterschiede.

Was dabei wegfällt, wie Kenny sagt: «Die Wette auf die Zukunft. Es gibt kein Gambling mehr bei Verträgen.» Denn vor Streaming haben Plattenfirmen mit jedem Vertrag mit der Unsicherheit gespielt, ob die Band Erfolg haben wird und haben viele Wege gesucht, dies zu erreichen. Auch mit Lizenzen für Filmmusiken oder Videospielen, mit Radio, Fernsehen, Zeitung. Heute gibt es nur noch einen Gradmesser: die bereits gezählten Streams. Alle Macht liegt somit bei den Anbietern. Das sind Monopole, wie sie die Musikindustrie noch nie gesehen hat in ihrer Geschichte.

Und diese neuen Monopole bestimmen auch, wer wieviel an den Streams verdient – die Spitze überproportional viel, alle andern wenig, weil die monatlichen Einnahmen jedes Mal neu verteilt werden. Wer Kerala Dust streamt, verteilt seine Abogebühr somit vor allem an Taylor Swift und Ed Sheeran.

Edmund Kenny ist mit Streaming aufgewachsen, er sagt: «Für mich sind Streaming keine Sales, auch wenn wir als Band von vergleichsweise guten Zahlen bei Spotify profitieren.» Technologisch wäre ein Änderung dieses Modells, das die Spitzen übervorteilt, kein Problem. Doch die Monopole und die letzten verbliebenen drei grossen Plattenfirmen weigern sich.  Dagegen hilft vorerst nur: Konzertkarten kaufen. Oder Yoga machen.

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