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Ulrich Tilgner, Brückenbauer am Abgrund der Welt

Worte vor Rauch und Flammen: Journalistischer Alltag von Ulrich Tilgner, hier 2003 in Bagdad. Keystone

Iran, Irak und Afghanistan: Wo Waffen sprechen oder Raketen drohen, plädiert Ulrich Tilgner für den Dialog zwischen Menschen und Kulturen. swissinfo hat den Orient-Korrespondenten des Schweizer Fernsehens und Radios in Bern getroffen.

Ulrich Tilgners Welt ist kein geschütztes Büro. Seine Welt ist dort, wo der Alltag von politischen und militärischen Drohungen, Bombenanschlägen, Waffengewalt und Kriegseinsätzen geprägt ist. Seit 30 Jahren berichtet der Deutsche aus dem Nahen und Mittleren Osten, insbesondere Iran, Irak und Afghanistan.

Das macht die Arbeit des Korrespondenten des Schweizer Fernsehens und Radios im Mittleren Osten besonders gefährlich.

Aber auch besonders wichtig. Wenn andere Waffen sprechen lassen, spricht Tilgner über Menschen und zeigt ihren schlimmen Alltag. Der 60-Jährige spricht aber auch über Alternativen. Dabei schöpft er aus einem Erfahrungsschatz, der ihn zu einem der besten Kenner der arabischen Welt macht.

swissinfo: Wie viele Tage waren Sie dieses Jahr unterwegs?

Ulrich Tilgner: Nicht so viele, 2008 war für den Orient ein relativ ruhiges Jahr. Ich war mehrfach in Afghanistan, dreimal im Irak und einige Male im Iran.

Im kommenden Jahr wird es anders. Im Iran finden die Revolutionstage statt, aus Anlass des 30. Jahrestages der Besetzung der US-Botschaft in Teheran. Es gibt auch Präsidentschaftswahlen, deren Ausgang extrem wichtig sein wird. Davon hängt ab, ob es eine Annäherung an die USA geben wird.

In Afghanistan wird ebenfalls ein Präsident gewählt. Aber es ist noch nicht klar, ob die Wahlen überhaupt stattfinden.

Diese Agenda zeigt, dass sich die Region in einer Umbruchphase befindet. Es könnte sein, dass 2008 das Jahr war, wo die Ruhe anfing. 2009 könnte aber auch zum Jahr der Rückschläge werden. Ich werde hoffentlich nicht zu oft in der Region sein, weil es Krieg oder grosse Konflikte geben wird.

swissinfo: Ihre Tätigkeit in diesen Ländern ist mit Risiken verbunden. Wie sieht Ihre journalistische Lebensversicherung aus?

U.T.: Das Risiko besteht darin, dass man entführt werden kann. Sowohl in Irak als auch Afghanistan gibt es heute eine Art Entführungsindustrie. Meist sind Mitarbeiter der Sicherheitskräfte darin verwickelt. Ich kann etwas dagegen tun, indem ich nur mit extrem zuverlässigen Personen zusammenarbeite.

Ich arbeite zudem verdeckt und sage niemandem, wohin ich gehe und in welchem Hotel ich übernachte.

Es gibt auch das Risiko von Anschlägen. Das kann man aber nicht beeinflussen. Bekannterweise finden solche zwischen acht und elf Uhr vormittags statt, weshalb ich dann Marktplätze meide. Strassen, die von Soldaten befahren werden, sind vor acht Uhr am sichersten, weil die Armeefahrzeuge erst ab dieser Zeit unterwegs sind.

Es bleibt ein Restrisiko, das aber sehr klein ist. Man liest ja immer nur vom einen Anschlag. In Bagdad sind aber Millionen Menschen unterwegs, denen nichts passiert.

swissinfo: Wie wählen Sie Ihre Vertrauenspersonen aus?

U.T.: Nur über Bekannte, die ich seit Jahren kenne. Mein Grundprinzip lautet, dass ich nur mit Personen zusammen arbeite, die ich länger kenne. In Bagdad habe ich zwei bis drei Fahrer. Wenn ich weiss, dass keiner zum Flughafen kommen kann, fahre ich nicht in den Irak, das Risiko ist mir zu gross.

swissinfo: Geraten Ihre Mitarbeiter nicht in Gefahr, weil sie für Sie arbeiten?

U.T.: Das glaube ich nicht. Ich arbeite nicht für einen Sender, den die Menschen nicht mögen. Im gesamten Nahen und Mittleren Osten geniesst die Schweiz ein sehr hohes Ansehen. Wird in Afghanistan ein Mitarbeiter des IKRK gekidnappt, entschuldigen sich die Entführer danach.

Der gute Ruf der Schweiz bietet mir einen gewissen Schutz. Ich bin zwar nicht Schweizer, aber Schweizer Journalist. Dadurch habe ich eine andere Position. Als Korrespondent des Schweizer Fernsehens erhalte ich Interviews, die meine Kollegen aus den USA und Europa nicht machen können.

swissinfo: Sie sprechen selbst nur wenig Arabisch, bezeichnen sich vielmehr als “Stummen”, der unter Arabisch Sprechenden arbeitet. Wie funktioniert das?

U.T.: Ich kann mich nicht aktiv am Gespräch beteiligen. Aber ich verstehe einiges, weiss also, worüber die Menschen sprechen. Aher ich kann mich hinsetzen und die Situation beobachten. Oder mich mit jemandem auf Englisch unterhalten. So ergeben sich private Gespräche, abgesetzt von den grossen Debatten.

Das ist auch entlastend, denn überall, wo ich abends hinkomme, wollen alle von mir wissen, ob sie ein Visum erhalten. Das kann einen wahnsinnig machen.

swissinfo: Die Situation in den Ländern scheint oft ausweglos. Wie halten Sie Distanz, dass Ihnen das Schicksal der Menschen dort nicht zu sehr zu schaffen macht?

U.T.: Es ist tatsächlich sehr schwer, weil sich da Katastrophen abspielen. Ich will beitragen, dass die Beteiligten als Menschen wahrgenommen werden. Selbst wenn sie Aufständische oder Mitglieder von al Kaida sind.

Ich begreife meine Arbeit auch als eine Art Anschubhilfe für Verhandlungen. Man sollte versuchen, die Gegenseite und ihre Motive zu verstehen, auch wenn es sich um Terroristen handelt.

Ich halte nichts von militärischen Lösungen. Diese sind immer nur Notmassnahmen, um das auszugleichen, was zuvor auf dem Feld von Politik und Kulturaustausch missraten ist.

Journalisten haben eine ganz wichtige Aufgabe, weil sie Brücken bauen können. Wir können zeigen, welches die Probleme in Afghanistan sind, welche Fehler gemacht worden sind und was passieren müsste, damit sich die Perspektive bessert. Schweizer Journalisten sind deshalb sehr geeignet dazu, weil das Land nicht in militärische Konflikte involviert ist, die zu nichts führen.

swissinfo: Jahreswechsel sind immer auch mit Hoffnungen verbunden. Sehen Sie für Afghanistan Ansätze einer Besserung?

U.T.: Das ist ganz schwierig. Das Afghanistan-Problem besteht ja auch darin, dass die Taliban von Pakistan aus agieren, dort ausgebildet und unterstützt werden. Es braucht also einen regionalen Friedensplan. Seit Jahren schwelende Konflikte wie in Kaschmir und Belutschistan müssen gelöst werden.

Dann ist es relativ einfach, die Lage zu beruhigen. Eine Stationierung von zusätzlichen Truppen und Soldaten wird nichts bringen.

swissinfo-Interview, Renat Künzi

1948 in Bremen geboren.

Studium der Kulturwissenschaften, der Politischen Wissenschaften und der Wirtschaftsgeschichte.

1976 bis 1978 Journalist beim Süddeutschen Rundfunk.

Ab 1980 Fernseh-Korrespondent in Teheran für die ARD.

Seit 1982 Berichterstattung für ZDF und Schweizer Fernsehen über den Nahen und Mittleren Osten.

Bis 2008 dortiger ZDF-Sonderkorrespondent; kehrt dem ZDF den Rücken, weil er sich von deutschen Medien “zunehmend eingeschränkt” fühlte.

Seit April 2008 Korrespondent für das Schweizer Fernsehen.

2008 kamen mindestens 60 Journalisten und ein Medienassistent bei Ausübung ihres Berufes ums Leben.

673 Journalisten wurden verhaftet, 929 Opfer von Gewalt oder Bedrohung und mindestens 29 entführt.

Das gefährlichste Land für Medienmitarbeiter war der Irak, wo 15 getötete Journalisten zu beklagen waren. Mit sieben Todesfällen folgt Pakistan. Auf den Philippinen starben sechs Medienschaffende.

Die grössten Gefängnisse für Journalisten waren erneut China (30 Inhaftierungen) und Kuba (23).

Weltweit sind 59 Blogger hinter Gittern. In China wurde erstmals ein Blogger umgebracht.

Fälle von Online-Zensur wurden in 37 Ländern dokumentiert. Am Schlimmsten ist es in Syrien, China und Iran.

(Quelle: Reporter ohne Grenzen).

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SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

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