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Polizeichef plädiert für Langfrist-Vergleiche

Die Zahl der Morde in der Schweiz ist heute markant tiefer als vor 30 Jahren, sagt Polizeichef Olivier Guéniat. RDB

Seit vier Jahren gibt es harmonisierte Kriminal-Statistiken der Bundespolizei. Doch scheint es schwierig zu sein, diese zu entschlüsseln. Das führe zu unterschiedlichen Interpretationen, warnt der Polizeikommandant des Kantons Jura, Olivier Guéniat.

“Es ist ein seriöser, ein massiver Schwindel”, murmelt Guéniat. – Was ist los? Taschendiebe in Pruntrut? Oder Uhrendiebstahl? Nein, der Polizeichef ärgert sich über verschiedene Zeitungsartikel, in denen die Schweiz als das Land mit der höchsten Einbruchsrate Europa bezeichnet worden ist.

“Sie beziehen sich auf eine fragwürdige Methode”, sagt Guéniat. “Die Schweiz sollte im Mittelfeld sein. Statt 927 Einbrüche auf 100’000 Einwohner, wie die Zeitungen schreiben, sollten es 450 sein, also die Hälfte.”

Guéniat ist ein Experte auf dem Gebiet der Polizeistatistiken. Er war Mitglied einer Arbeitsgruppe für Statistiken der Bundespolizei und unterrichtet zu diesem Thema an der Universität Neuenburg.

Wenn die jährlichen Kriminalitäts-Statistiken veröffentlicht werden, meldet sich der Polizeikommandant regelmässig bei den Medien, um die Statistiken zu erklären und auch, um sie anzuprangern.

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Über lange Sicht konstant

Er kritisiert, dass die Statistiken Mängel hätten und dass ihnen eine Langzeitperspektive fehle. Seit vier Jahren werden die Statistiken unter den 26 Kantonen koordiniert, doch man könnte noch weiter gehen.

Laut der Statistik für das Jahr 2012, die Ende März veröffentlich wurde, gab es im letzten Jahr 750’371 Tatbestände. Das sind 52’026 oder 11% mehr als 2011. Für den Anstieg sind laut dem Bundesamt für Statistik vor allem Diebstähle verantwortlich.

Auf den ersten Blick erscheint der Anstieg dramatisch, doch Guéniat erklärt: “Wenn man nur ein Jahr mit dem Vorjahr vergleicht, dann kann man einen Anstieg feststellen, doch über zehn oder zwanzig Jahre haben sich die Zahlen wenig verändert. 2012 gab es weniger Einbrüche als 2004.”

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Kantone teilweise in Verzug

1990 seien in der Schweiz 110 Mordtaten verübt worden, 2012 seien es 47 gewesen, so der Kommandant. Zwischen 2010 und 2011 haben die Taschendiebstähle um 16% auf 61’128 zugenommen. Doch auch 2005 verzeichnete das Land 61’194 Taschendiebstähle, 1998 waren es 83’416. “Was ist also die Botschaft?”, fragt Guéniat.

Der Polizeikommandant ortet ein Problem bei den offiziellen Statistikmethoden. “Wir zählen die Taten pro 1000 Einwohner, aber bei einem Einbruch handelt es sich um drei Straftaten, um Diebstahl, Hausfriedensbruch und um Beschädigung von Eigentum. Wenn Sie also eine Zunahme von 1000 Einbrüchen haben, ergibt das eine Zunahme von 3000 Straftaten.”

Dazu kommt, dass einzelne Kantone mit den Statistiken in Verzug sind. “Da kann es vorkommen, dass Tatbestände aus dem Vorjahr zum laufenden Jahr gerechnet werden. Das heisst, dass die Statistiken nicht immer ein exaktes Bild abgeben”, sagt Guéniat.

Seit 1982 werden die Straftaten in der Schweiz statistisch erfasst. Jeder Kanton hat dazu sein eigenes System.

Im Jahr 2006 haben Bundesrat, Bundespolizei und die Kantone entschieden, für die Statistiken ein einheitliches System anzuwenden. Die Kantone haben dazu ihre IT-Systeme vereinheitlicht. Ziel war es auch, die Kriminellen über die Kantonsgrenzen hinweg besser verfolgen zu können.

Seit 2010 werden die harmonisierten Kriminalstatistiken veröffentlicht.

Zunehmende Angst

Der Experte verlangt deshalb eine unabhängige und nationale Überwachung der Kriminalität. “Bisher vermitteln wir der Bevölkerung ein falsches Bild und die Politiker sprechen über Zahlen, die nicht ganz stimmen.”

Zudem räumt der Kommandant ein, dass die Haltung der Gesellschaft gegenüber der Gewalt der Interpretation nicht förderlich sei. “Paradoxerweise hat die Toleranz gegenüber der Gewalt in den vergangenen dreissig Jahren abgenommen. Wir sprechen viel mehr über Gewalt, sogar wenn wir davon nicht direkt betroffen sind. In den Medien nehmen Geschichten über Gewalt immer mehr Platz ein. Die Angst hat zugenommen.”

Olivier Guéniat wurde 1967 im jurassischen Pruntrut geboren. Er schloss die Universität Lausanne mit einem Doktorat in Kriminalwissenschaften ab.

Von 1992 bis 1997 war er Leiter des gerichtsmedizinischen Dienstes der Kantonspolizei Jura.

1997 wurde er Chef der Kriminalpolizei des Kantons Neuenburg.

Seit 2011 ist er Kommandant der Kantonspolizei Jura.

Naiv?

Kürzlich ist Guéniat am Schweizer Fernsehen aufgetreten und hat die heutige Kriminalitätsrate mit derjenigen vor zwanzig Jahren verglichen. Daraufhin kritisierte ihn die Waadtländer Polizeidirektorin Jacqueline de Quattro als “letzten Polizeikommandanten, der immer noch” eine solch naive Sicht auf die Ereignisse habe.

Doch das hat Guéniat überhaupt nicht beeindruckt. “Ich bin nicht naiv. Ich verstehe nicht, wieso sich Leute aufregen, wenn ich sage, dass sich die Fälle von Mord und Totschlag in den vergangenen dreissig Jahren stabilisiert haben oder wenn ich sage, dass sich die Anzahl der Körperverletzungen verringert hat. Wir leben in einer Gesellschaft mit weniger Gewalt, aber die Daten lassen sie gewalttätiger erscheinen. Ich weigere mich, mich zu empören, nur weil ich Wähler gewinnen will. Ich ziehe es vor, die Wahrheit zu sagen über die Sicherheit, ohne die Probleme zu verneinen.”

(Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Keiser)

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