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Verteidigung der Volksrechte durch Einschränkung

Für eine Initiative werden auf der Strasse Unterschriften gesammelt. Eine Passantin unterschreibt. Christian Flierl

Das System der direkten Demokratie wurde in der Vergangenheit hochgelobt. Die Abtstimmung über ein Minarettverbot stellt jedoch dieses Ideal in Frage.

Viele der Reaktionen, die swissinfo.ch nach der Abstimmung erhalten hat, haben auf den Aspekt hingewiesen, dass im Schweizer System die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das Recht haben, Verfassungsänderungen mitzubestimmen.

Aber die Geschichte der direkten Demokratie hat sich langsam entwickelt und wurde ständig angepasst. Das Resultat der Abstimmung über Minarette ruft nach einer erneuten Veränderung.

Aus der Sicht vieler Juristen verletzt die Entscheidung, Minarette zu verbieten, die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die die Schweiz unterschrieben hat.

Initiativen werden dann für ungültig erklärt, wenn sie gegen zwingendes Völkerrecht verstossen, wie beispielsweise die Verbote von Folter, Genozid, Sklaverei.

Die Verordnungen der EMRK gelten nicht als zwingende Normen. Doch die Schweiz muss sich trotzdem daran halten.ö

Vor zwei Jahren reichte Daniel Vischer, Nationalrat der Grünen Partei und Mitglied der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen, eine parlamentarische Initiative ein, die beinhaltet, Volksinitiativen für ungültig zu erklären, wenn sie fundamentale Rechte verletzen.

Vischer wollte damit verhindern, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über Verfassungsänderungen abstimmen können, die nicht umgesetzt werden können.

Sein Vorschlag ist von der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, dem Nationalrat und der Staatspolitischen Kommission des Ständerats behandelt. Sowohl die Staatspolitische Kommission des Nationalrats als auch der Nationalrat selbst stimmten ihm zu. Die Staatspolitische Kommission des Ständerats lehnte das Begehren ab.

Forderung sind unvereinbar

Vischer ist nicht der Einzige, der über die Normabweichung im Gesetzesbereich der Direktdemokratie besorgt ist.

“Wir müssen herausfinden, wie wir die Leute davon abhalten, Volksinitiativen einzubringen, die den international garantierten Menschenrechte zuwiderlaufen”, sagt Andreas Auer, Professor für Öffentliches Recht an der Uni Zürich und Direktor des Zentrums für Demokratie in Aarau.

Dies würde die direkte Demokratie an sich in Frage stellen, betont er. “Wir verteidigen diese Art von Demokratie bis zuletzt. Und eben gerade deshalb müssen wir eingestehen, dass auch sie Grenzen hat.”

Der Spezialist sagt, dass Volksinitiativen auf kantonaler Ebene seit Jahren auf ihre Übereinstimmung mit Bundesgesetzgebung und Menschenrechten überprüft werden. Dasselbe sollte auch auf Landesebene seine Gültigkeit haben.

Wie genau dieses Probleme aber anzugehen sei, müsse erst herausgearbeitet werden, und dafür brauche es Diskussionen.

Auer kann sich vorstellen, dass Bundesrat und Parlament eingebrachte Initiativ-Vorschläge zwar prüfen könnten, ohne das letzte Wort darüber zu haben, ob eine Volksabstimmung darüber möglich ist oder nicht.

“Ein Gericht muss die letzte Instanz sein, davon bin ich überzeugt. Solche Fragen können nicht von politischen Instanzen wie Regierung oder Parlament entschieden werden. Da braucht es Richter. Menschenrechtsfragen sind eine delikate Angelegenheit.”

Kein Widerspruch, meint die Schweizerische Volkspartei

Für Ulrich Schlüer hingegen gibt es keinen Widerspruch zwischen Menschenrechten und direkter Demokratie. Der Parlamentarier der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Mitglied der Initiativgruppe zum Verbot von Minaretten sagt gegenüber swissinfo.ch, dass das Gegenteil stimme.

“Nicht nur Menschenrechte, sondern Recht ganz allgemein und Demokratie sind Zwillinge”, sagt er. “Rechte, die aus dem direktdemokratischen Entscheidungsprozess resultieren, sind die stabilsten und am besten anerkannten.”

Aus seiner Sicht wäre eine Befragung von Richtern, ob nun eine Volksinitiative legitim sei oder nicht, das Ende der direkten Demokratie.

Er beschuldigt das ‘Establishment’, das System ändern zu wollen weil es die Abstimmung verloren habe. “In einer Demokratie hingegen, und in einer Direkten auch, hat das Volk das Recht, anders zu entscheiden als die Regierung möchte.”

Der Präsident des ‘Initiativ und Referendum-Instituts Europe’ (IRI), Bruno Kaufmann, sagte gegenüber swissinfo.ch, dass sich die direkte Demokratie weiterentwickelt habe. In vormodernen Zeiten hätte das Volk praktisch über Alles entscheiden können – doch die Welt habe sich seither verändert.

Im vorliegenden Fall des Minarettverbots erhebe sich die Frage, wo genau die Grenzen für eine direkte Demokratie liegen, so Kaufmann.

“Eine zeitgemässe direkte Demokratie muss die Grenzen ihrer eigenen Macht miteinbeziehen. Alle anderen Institutionen einer modernen Demokratie müssen das ebenfalls tun.”

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Volksinitiative

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Volksinitiative erlaubt den Bürgerinnen und Bürgern, eine Änderung in der Bundesverfassung vorzuschlagen. Damit sie zu Stande kommt, müssen innerhalb von 18 Monaten 100’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht werden. Darauf kommt die Vorlage ins Parlament. Dieses kann eine Initiative direkt annehmen, sie ablehnen oder ihr einen Gegenvorschlag entgegenstellen. Zu einer Volksabstimmung kommt es…

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Erinnern an die Grundprinzipien

Gemäss Auer geht es im vorliegenden Fall eigentlich um eine Erinnerung an die Grundprinzipien.

“Wir setzen die Menschenrechte nicht über die direkte Demokratie”, so Auer. “Jedermann weiss, dass es sie gibt. Das Stimmvolk hatte nie das Recht, die Menschenrechte zu missachten. Wir möchten nur jene, die den Minarett-Entscheid verursacht haben, daran erinnern, dass Menschenrechte nicht missachtet werden dürfen.

Im Gegensatz zu Schlüers Überzeugung, wonach das Minarettverbot die Rechte der Muslime nicht beschränkt, erwarten zahlreiche Rechtsexperten, dass am Europäischen Gerichtshof Beschwerden gegen diesen Entscheid eingereicht werden.

Auer hofft dies zu vermeiden – zumindest in Zukunft. Jegliche Abänderung des heutigen Systems müsste vom Stimmvolk abgesegnet werden. Und Auer hofft, das Stimmvolk werde sie annehmen.

Julia Slater, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Eveline Kobler, Alexander Künzle)

Neben dem Parlament kann in der Schweiz auch die Bevölkerung aktiv Verfassung und Gesetze mitgestalten; das politische System der Schweiz ist eine halbdirekte Demokratie.

Die beiden wichtigsten direkt-demokratischen Instrumente sind Volksinitiative und Referendum. Beide gibt es sowohl auf Bundes-, wie auch auf Kantons- und Gemeindeebene.

Bei der Volksinitiative auf Bundesebene können 100’000 Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Unterschrift eine Volksabstimmung über eine Total- oder Teilrevision der Verfassung verlangen.

Von 1891 bis 2007 haben die Schweizer Bürgerinnen und Bürger nur 15 Volksinitiativen angenommen.

Das Referendum ist ein “Bremsinstrument”: Vom Parlament beschlossene Gesetze können nach erfolgreicher Unterschriftensammlung, auf Bundesebene 50’000 Signaturen in drei Monaten, zur endgültigen Genehmigung durch das Volk zur Abstimmung gebracht werden.

Stimm- und Wahlberechtigt sind Frauen in der Schweiz erst seit 1971.

Ausländerinnen und Ausländer sind in mehreren Kantonen und Gemeinden stimm- und wahlberechtigt.

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