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Vom Islam zur “Landeskirche”: noch ein weiter Weg

"Demonstation" von Islamgegnern gegen die Errichtung eines Minaretts in Langenthal. Keystone

Zwei islamische Vereine verlangen die staatliche Anerkennung des Islam. Laut Islamwissenschafter Andreas Tunger-Zanetti wirft diese berechtigte Forderung auch Fragen zum repräsentativen Charakter religiöser Organisationen auf und zur schwachen Struktur des Islam auf.

Ihre Botschaft blieb nicht unbeachtet. Die Föderation islamischer Dachorganisationen der Schweiz (FIDS) und die Koordination islamischer Organisationen Schweiz (KIOS) haben in einer Pressemitteilung erklärt, sie wollten bis Ende Jahr ein nationales “religiöses Parlament” wählen, ein Parlament, welches die rund 400’000 Muslime in der Schweiz lebenden Muslime vertritt. Erklärtes Ziel eine staatliche Anerkennung des Islam.

Laut der Einschätzung des Islamwissenschaftlers und Religionsexperten, Andreas Tunger-Zanetti, Koordinator am Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern und Mitarbeiter des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik der Universitäten Basel, Lausanne, Luzern und Zürich, bleiben bis zu einer staatlichen Anerkennung noch zahlreiche Hindernisse zu überwinden.

swissinfo.ch: Haben Sie die Projekte der zwei Organisationen überrascht?

Andreas Tunger-Zanetti: Nein, denn ihre Arbeit spielte sich nicht im Geheimen ab. Sie arbeiten seit drei Jahren zusammen mit Rechtsexperten und bekannten Persönlichkeiten zusammen. In der Schweizer Praxis kommt eine rechtliche und politische Anerkennung erst zustande, wenn sie auch von der Zivilgesellschaft akzeptiert ist.

In den Kantonen Genf, Waadt, Freiburg, Aargau, Baselstadt, Luzern und Zürich existiert bereits eine Dachorganisation. Und sie verrichtet in Zusammenarbeit mit den Behörden häufig gute Arbeit, um konkrete Probleme zu regeln. So unterstützt sie etwa die lokalen Vereine und die Gemeindebehörden, wenn es darum geht, konfessionelle Stätten in den Friedhöfen einzurichten. Ein Dutzend gibt es mittlerweilen.

swissinfo.ch: Welche Hindernisse sehen Sie auf dem Weg zu einer Anerkennung?

A. T.-Z.: Der Islam hat ein strukturelles Problem. Es gibt keine Kirche: Es genügt, mit lauter Stimme und vor Zeugen das Glaubensbekenntnis zu äussern, um Muslim zu sein und zur Gemeinschaft zu gehören. Es gibt keine geweihten Priester, keine Sakramente und kein Register der praktizierenden Muslime. Es ist eine relativ egalitäre Religion und schwach strukturiert.

In der Schweiz hingegen ist das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat seit Jahrhunderten geregelt. Welches ist die bestmögliche Organisation in der Schweiz, wenn eine Religion ursprünglich keine Struktur aufweist?

swissinfo.ch: Den Willen zur Anerkennung stellen Sie aber nicht in Frage?

A. T.-Z.: Laut FIDS und KIOS strebt die Mehrheit der Muslime in der Schweiz eine rechtliche Anerkennung des Islam an. Ich habe jedoch einige Zweifel. Ich habe den Eindruck, dass diese Mehrheit nur bei den praktizierenden Muslimen existiert, und das ist ihr gutes Recht.

Die praktizierenden Muslime machen gemäss unserer Berechnung aber nur etwa 15% aus, also rund 60’000 Personen der insgesamt 400’000 Musliminnen und Muslimen in der Schweiz. Das entspricht dem Verhältnis der Gläubigen in anderen Ländern Europas.

Das ist natürlich kein Argument gegen eine Anerkennung . Wer aber sind die Muslime, welche von einer “Landeskirche” vertreten sein möchten? Wer entscheid darüber, wer Muslim ist? Keine Organisation kann von sich behaupten, für die nicht-praktizierende Mehrheit zu sprechen, die meiner Ansicht nach vor allem in einem sehr allgemeinen Sinn anerkannt und akzeptiert sein möchte.

swissinfo.ch: Geht es bei dieser Initiative nicht vor allem darum, die Muslime zu einen?

A. T.-Z.: Ja, ich denke schon. Die Muslime haben bereits mehrere Dachorganisationen in der Schweiz. Es gibt die Albaner, die Bosniaken und die Türken und noch die Alewiten, die mit ihrer muslimischen Identität nicht zufrieden sind. Ich glaube, es ist zu früh, von einer vereinten Bewegung zu sprechen.

Vielleicht wollten FIDS und KIOS auch zeigen, dass es nicht nur den Islamischen Zentralrat oder das Forum für einen fortschrittlichen Islam gibt, welche eher Einzelpersonen als lokale Gemeinschaften vertreten. Aber diese Organisationen möchten auch ein Wort mitreden…Und auch in den lokalen Gemeinschaften sehe ich die Basis eher skeptisch oder sogar in abwehrender Haltung.

swissinfo.ch: Eine nationale Organisation könnte aber nicht in den Kantonen tätig sein…

A. T.-Z.: Genau. Die Anerkennung öffentlichen Rechts und die Steuereinnahmen liegen in den Kompetenz der Kantone. Sie gilt für eine konkrete religiöse Organisation, nicht für eine Religion an sich. Übrigens ist die Christengemeinschaft (Anthroposophen) im letzten September im Kanton Baselstadt als Religionsgemeinschaft anerkannt worden

Zwei weitere Gesuche um Anerkennung sind in Basel deponiert worden, von der Neuapostolischen Kirche sowie von den Alewiten. Die neue Verfassung von 2005 erlaubt eine privatrechtliche Anerkennung. Wenn das Gesuch anerkannt wird, wären die Alewiten die erste muslimische Gemeinschaft in der Schweiz, die anerkannt wird. Aber auch ohne das ist die Vielfalt von Religionen in unserem Land bereits sichtbar.

Basel-Landschaft: In seiner neuen Verfassung sieht der Kanton vor, dass “Kirchen, die gemäss Privatrecht organisiert sind, eine kantonale Anerkennung durch ein Dekret des Grossen Rates erhalten können.”

Basel-Stadt: Die Kirchen, die die strengeren Kriterien für eine Anerkennung nach öffentlichem Recht nicht erfüllen, können trotzdem um eine Anerkennung nachsuchen. Letzten Herbst hat der Grosse Rat diese Anerkennung akzeptiert, “sie hat einen symbolischen Charakter und entwickelt eine integrative Wirkung”, erklärt die Kantonsregierung Basel-Stadt, in Bezug auf die antroposophische Christengemeinschaft.

Abgelehnt: Im vergangenen Februar hat das Kantonsparlament den Antrag der neuapostolischen Kirche abgelehnt. Damit hat sie eine lebhafte Debatte über die Zulassungskriterien ausgelöst. Das Dossier ist nun wieder beim Regierungsrat.

Muslime: Gemäss der Volkszählung von  2001, ist der Kanton Basel-Stadt der jenige, der den grössten Anteil an Muslimen hat.

Auch die Alewiten haben 2010 ein Anerkennungsgesuch gestellt. Es wurde vom Regierungsrat noch nicht behandelt.

Anzahl: Zur Zeit leben ungefähr 400’000 Muslime in der Schweiz. Das sind ungefähr 5 Prozent der Bevölkerung.

Herkunft: Gemäss eine Studie, die von der Universität Genf durchgeführt wurde, “kommen die Mitglieder der muslimischen Gemeinden hauptsächlich aus drei Gebieten: Aus der Türkei, dem Maghreb und dem Balkan, vor allem aus Kosovo und Mazedonien.”

Religiosität: Ihre Beziehung zur Religion ist sehr verschieden. Nur ein kleiner Teil der befragten Muslime bezeichnet sich selbst als sehr religiös.

(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)

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