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Von der Big-Band zum Kammerorchester

Am 13. Mai in der Schweiz: Das VAO, Ausgabe 2009. Katsey

"Vienna Art Orchestra" - der Name war lange Zeit Synonym für europäischen Big-Band-Jazz. Weil das Geld fehlte, kam 2008 das Ende. Nun hat der Schweizer Mathias Rüegg sein Orchester neu formatiert: Die Big-Band ist zum Kammerorchester mit Jazz-Solisten mutiert.

“Rüegg ist das Kunststück gelungen, mit zügiger Feder dort für Spannung und Vitalität zu sorgen, wo für gewöhnlich das Artifizielle lauert: an den scheinbar abgeklärten Fronten von Klassik und Jazz”, schrieb die Kleine Zeitung nach der Premiere am 2. Mai.

“Third Dream” nennt der Komponist und Arrangeur Mathias Rüegg das neue Programm und bezieht sich damit auf die Experimente in den 1950er-Jahren, bei denen verschiedene Komponisten versuchten, die formalen Möglichkeiten der europäischen Kunstmusik mit der rhythmischen Vielfalt und der Spontaneität des Jazz zu vermischen.

Tragende Streicherklänge, statt dissonante Bläsersätze, Kammermusik, statt rockige Gitarren: Rüegg hat sein Vienna Art Orchestra (VAO) seit jeher konsequent weiter entwickelt und perfektioniert. Der radikale Schnitt ist eine logische Folge einer Entwicklung.

“Ich will grosses Kino machen”

Von den ironischen, anarchistischen Versatzstücken der Pionierzeit über hoch komplexe, zeitgenössische Big-Band-Musik, zum Swing von Duke Ellington und schliesslich zur Klassik: Je länger das VAO besteht, desto stärker wurzelt seine Musik in der Tradition.

“Je älter man wird, desto interessanter wird die Vergangenheit und desto weniger spannend wird die Gegenwart”, sagt Rüegg im Gespräch mit swissinfo und zieht den Vergleich mit dem Filmemachen. “Wenn ich Filmer wäre, möchte ich heute keine Experimentalfilme mehr machen, ich will grosses Kino machen.”

Gefährdete Institution

Verglichen mit Klassik oder Pop bewegt sich das VAO in einer Nische. “Innerhalb dieses Minderheitenmarkts möchte ich schon, dass es funktioniert. Es wäre ja peinlich, wenn ich immer noch in alternativen Kulturzentren vor 50 Leuten auftreten würde”, so Rüegg.

2007 wurde das VAO 30-Jahre alt. – 30 bis 40 Konzerte im Jahr, Auftritte auf der ganzen Welt, mehr als 40 CD’s sowie Auszeichnungen und Kulturpreise: Das VAO war längst eine globale Institution der Jazzszene.

Dennoch war sein Weiterbestehen vor einem Jahr in Frage gestellt, weil einer der Hauptsponsoren den Vertrag gekündet hatte. Rüegg fand andere Geldgeber, änderte das musikalische Konzept und stellte ein neues VAO zusammen, das im Rahmen seiner aktuellen Tournee am 13. Mai auch in Schaffhausen auftritt.

Von der Subkultur zum Mainstream

“Die Schweiz ist ein sehr schnelles, dynamisches Land geworden. Sie macht einen sehr dynamischen Eindruck. Es gibt einen extrem hohen Jugendkultfaktor. Vieles ist sehr amerikanisiert, fit- und fun-mässig, Sport spielt eine grosse Rolle. Auch in Wien gibt es eine Party-Szene, aber daneben gibt es auch sehr viel Kultur”, sagt Rüegg.

“Wenn man in Kloten ankommt, hört man Alphörner und Jauchzer und sieht das Heidi. Das sind krampfhafte Versuche, eine Tradition wieder zu beleben, die es gar nicht mehr gibt.” – Rüegg verbrachte seine Kindheit und seine Jugend im engen Prättigau, im Kanton Graubünden.

“Man durfte keine langen Haare haben, die Mädchen durften keine Hosen anziehen und in den Klavier-Übungszimmern durfte man keinen Boogie Woogie und keinen Jazz spielen. Das hat sich komplett ad absurdum geführt. Die damaligen Helden der alternativen Subkultur sind heute die Heros des durchschnittlichen unteren Bürgertums”, so Rüegg, der in der Schweiz einige Jahre als Sonderschullehrer gearbeitet hat.

Wien aus dem Schlaf wecken

1973 – mit 21 – ging er nach Graz, um an der dortigen Jazz-Hochschule zu studieren. “Das ist auch eine Familientradition. Es ist nötig, seinen Horizont zu erweitern. Kunst braucht Metropolen.”

Von Graz war der Weg nach Wien nicht weit. “Damals lag die Stadt in einer Art Dauerschlaf”, so Rüegg. “Heute ist Wien eine der europäischen Hauptstädte des Jazz.”

Dass sich hier eine breite, lebendige Jazzszene entwickelt habe, sei klar das Verdienst Rüeggs, sagt die in Wien lebende Schweizer Künstlerin Christina Zurbrügg. “Mathias hat viele Talente entdeckt, er hat ihnen beim VAO Arbeit gegeben. Viele sind zum VAO gekommen und haben sich hier niedergelassen. Auch den “Porgy&Bess” – ihren besten Jazzclub – hat die Stadt ihm zu verdanken.”

Andreas Keiser, swissinfo.ch

1952 in Zürich geboren. Er machte seinen Abschluss als Primarschullehrer und unterrichtete zunächst an verschiedenen Sonderschulen.

Von 1973 bis 1975 studierte er in Graz klassische Komposition und Jazzklavier und übersiedelte 1976 nach Wien, wo er freiberuflich als Pianist arbeitete.

Der Soloarbeit müde geworden, gründete er 1977 das Vienna Art Orchestra, für das er bis heute fast alle Programme schrieb: insgesamt rund 400 Kompositionen und Arrangements.

In den Jahren 1984 bis 1986 wurde er vom amerikanischen Fachmagazin Downbeat zum Arrangeur Nummer eins gewählt.

Er komponierte Film- und Theatermusik im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit George Tabori und dem Wiener Serapionstheater.

Spezielle Projekte zwischen Musik und Literatur verbanden ihn 1983 bis 1990 mit dem Wiener Lyriker Ernst Jandl.

Er konzipierte auch mehrere Multimedia-Projekte, darunter Der achte Tag (Wiener Festwochen 1980), Jonny tritt ab (Donaueschingen 1981), SENS (Wiener Festwochen 1987), Fe & Males (1989) und La belle et la bête (1992).

Er ist Gründer des Wiener Jazzclubs Porgy & Bess und Initiator des Hans Koller Preises (österreichischer Jazzpreis).

Seit 1994 widmet er sich zunehmend der Komposition von Kammermusik.

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