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Was eine Bundesrätin, ein Bundesrat mitbringen muss

Menschen stehen auf einer Wiese
Der Bundesrat, die Exekutive der Schweiz, gibt sich Juli 2018 auf der Bundesratsreise betont entspannt. © KEYSTONE / PETER KLAUNZER

Während die Schweiz gespannt auf ihre beiden neuen Bundesräte wartet, haben wir Leser, Experten und Politiker gefragt, was ein Bundesrat an Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringen sollte. Was ist nötig, um eine moderne Demokratie zu führen? Sind es die Qualifikationen? Der Charakter? Das Umfeld und die Verbindungen des Kandidaten?

Die Schweiz beschäftigt sich seit Monaten mit der Frage, wer die abtretenden Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Doris Leuthard ersetzt. Beide haben im vergangenen September ihren Austritt aus dem Exekutivorgan bekanntgegeben. Am kommenden Mittwoch, 5. Dezember, wird neu gewählt.

In der konsensorientierten Alpennation gibt es ein paar grundlegende Voraussetzungen. Wer sie nicht erfüllt, hat sowieso keine Chance. Erstens muss die so genannte “Zauberformel” gewahrt bleiben, eine Art parteiliches Gleichgewicht im siebenköpfigen Bundesrat. Entsprechend werden die beiden neuen Minister aus denselben Parteien stammen wie ihre Vorgänger: Der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen) und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP).

Zweitens spielt die Herkunft eine grosse Rolle: Die verschiedenen Sprachregionen der Schweiz neigen dazu, sich an ihre Minister zu klammern, wenn sie einen erhalten haben. Leuthard und Schneider-Ammann sind beide Deutschschweizer, was die Sache also weiter vereinfacht.

Zudem wird eine Vorauswahl getroffen: Das Parlament entscheidet auf der Grundlage der Empfehlungen der Parteien. Wer also keine Empfehlung erhält, hat es schwer. Hinzu kommt der Ruf sowohl nach mehr Frauen als auch nach mehr Jungen in der männlich dominierten, alternden Landesregierung. Aus all diesen Gründen ist der Kandidatenpool von vorneweg sehr klein.

Was meint die Leserschaft?

Doch wie sieht es mit den persönlichen Qualifikationen und Qualitäten der Kandidierenden aus? Benötigt das Land eher Anwälte an der Spitze (traditionell US-amerikanisches Modell) oder eher technisch orientierte Leader (à la China)? Sind mehr Wissenschaftler oder Tech-Wizards für das digitale Zeitalter nötig? Ist die Mehrsprachigkeit massgebend?

Oder braucht es jemanden mit Gravitas, einer vielseitigen Tugend, die bereits im alten Rom von Führungspersonen gefordert wurde. Sie kann als Kombination aus Ernsthaftigkeit, Charisma und Würde umschrieben werden.

Wir fragten die swissinfo.ch-Community auf Facebook: Was ist entscheidend und wünschenswert? Die Antworten waren sehr unterschiedlich. Einige Leserinnen und Leser, welche die Dominanz von Anwälten und Berufspolitikern satt haben, forderten mehr Wissenschaftler: “Sie sind der Realität am nächsten”, meinte jemand. “Es wäre gut, eine Person zu haben, die Energie- und Umweltprobleme kennt und Lösungen bietet”, fand ein anderer.

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Geschäftsleute, die manchmal als Beispiele für pragmatische Problemlöser betrachtet werden, sind bei unseren Lesern mal Fluch (“Es sollte definitiv kein Geschäftsmann sein”), mal Segen (“Es sollte jemand sein, der mindestens zehn Jahre im Privatbereich gearbeitet hat”).

Das Thema Alter (“mindestens 45”), technisches Know-how (“denn wir leben in einer sich rasch verändernden Umwelt”) und die Fähigkeit, komplexe Dossiers erfassen und verwalten zu können, ohne sich in Details zu verlieren, wurden ebenfalls hervorgehoben. Ein Leser schlug vor, dass Tennis-As Roger Federer mehr als nur ein figurativer König werden sollte – “Roger for Bundesrat”, sozusagen.

Hauptsache, gesunder Menschenverstand

Abgesehen von der Debatte über Qualifikationen und Lebensläufe war der “gesunde Menschenverstand” mit Abstand die am häufigsten genannte wünschenswerte Eigenschaft. Einen Kandidaten mit “zu vielen Abschlüssen und Auszeichnungen” lehnten viele ab.

Der Politologe Claude Longchamp vom Forschungsinstitut gfs.bernExterner Link stimmt der Einschätzung der Leserinnen und Leser in Teilen zu. Für den erfahrenen Analysten, der den historischen Wandel des typischen Schweizer Politikers vom lokal verankerten Normalbürger zum vielschichtigen Anführer beobachtet hat, stehen Qualifikationen und Fachwissen hinter Gravitas.

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“Ein Bundesrat sollte die Schweiz mit Gravitas vertreten können”, argumentiert er. Er oder sie, sagt Longchamp, sollte in der Lage sein, mehr zu tun, als bloss ein Dossier zu verwalten, und den Status und das Charisma eines Staatsmannes oder einer Staatsfrau auszustrahlen. Der derzeitige Bundesrat Alain Berset hat solche Qualitäten; Karin Keller-Sutter, die vielfach als Nachfolgerin von Schneider-Ammann gehandelt wird, ebenso.

Diese Analyse mag vage erscheinen, schliesslich kann man Charisma und Ernsthaftigkeit nicht quantifizieren. Aber das ist der Punkt. Die unfassbare Wahrheit einer oder eines guten Regierenden beinhaltet zu gleichen Teilen Überzeugungskraft, Wissen, Demut und Zuversicht.

Es sind Eigenschaften, die über das Messbare hinausgehen. Sie spiegeln auch die schweizerischen Besonderheiten wider: “Bundesräte sind keine Minister wie in anderen europäischen Ländern”, betont Longchamp. In anderen Ländern – beispielsweise in Frankreich – könnten Minister Spezialisten und als solche nur für bestimmte Dossiers zuständig sein. Einen Bundesrat hingegen erwartet eine breite Palette von Themen. Deshalb seien vor allem Generalisten gefragt.

Generalisten gesucht

Longchamp weist auch auf die Fähigkeit hin, parteispezifische Zugehörigkeiten überwinden zu können, um dem allgemeinen (nationalen) Guten zu dienen. Auch dafür ist der aktuelle Bundespräsident Alain Berset ein positives Beispiel. Politiker, die extreme Positionen im politischen Spektrum vertreten, haben es schwerer als traditionelle Zentristen.

Die 30-jährige Lisa Mazzone, eine Politikerin der Grünen aus Genf, war bis vor kurzem das jüngste Nationalratsmitglied (sie wurde letztes Jahr von dem 28-jährigen Fabian Molina entthront).

Mazzone kandidiert nicht für den Bundesrat und möchte dies in naher Zukunft auch nicht tun, aber sie hat eine klare Vorstellung, was ein Bundesrat mitbringen sollte.

Lisa Mazzone am hölzernen Rednerpult mit zwei Mikrofonen
Lisa Mazzone vor dem Nationalrat im Juni 2018. © KEYSTONE / ANTHONY ANEX

Die Genfer Politikerin, die französische und lateinische Literatur studiert hat, legt keinen allzu grossen Wert auf hohe Qualifikationen und umfangreiche Lebensläufe. “Es ist wichtiger, ein Generalist zu sein”, sagt sie. Ihrer Meinung nach ist die Schlüsselkompetenz die Fähigkeit, ein Dossier rasch zu verstehen und es einem mediengewandten Publikum gut zu erklären, ohne die Probleme zu stark zu vereinfachen.

Sich stützt die Voten von Longchamp und zahlreicher Leser: Ein guter Umgang mit Menschen übertrumpfe fast alles. Sie nennt “People Skills” und die Fähigkeit, im Interesse der Gesamtschweiz “Parteigrenzen” zu überwinden, als die wichtigsten Qualitäten eines Regierungsmitglieds.

In jüngster Zeit fällt die Zunahme so genannter “Berufspolitiker” auf, die Politik als ihren alltäglichen Job betreiben, ohne zuvor in einem anderen Bereich Karriere gemacht zu haben. Auch auf Mazzone passt, zumindest technisch gesehen, diese Beschreibung.

Was hält sie von Berufspolitikern? Sie wisse nicht, ob solche Politiker für Führungsaufgaben besser oder schlechter geeignet sind, auch wenn Kritiker meinten, sie seien zu weit weg vom Alltag und würden den Normalbürger zu wenig verstehen. Sie gibt zu, dass einige ihrer Kollegen vielleicht mehr daran interessiert sind, Politiker zu sein, als Politik zu “betreiben”. Ihre eigenen Ziele und Motive seien aber klar. “Ich bin in die Politik eingetreten, weil ich die Gesellschaft verändern wollte”, sagt Mazzone.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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