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Walter Kälin: Irak-Mission “ermutigend”

Der Rückzug der US-Truppen stellt den Irak vor zahlreiche neue Probleme. Reuters

Der Schweizer UNO-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen zieht nach seinem Besuch in Irak eine gemischte Bilanz. Ende Oktober gibt er sein Amt ab. Ab Januar 2011 wird er die Menschenrechte in der Schweiz genauer unter die Lupe nehmen.

swissinfo.ch: Sie sind dieses Wochenende nach einer Woche aus Irak zurückgekehrt. Wie sieht die Situation im Land nach dem Rückzug der US-Streitkräfte aus?

Walter Kälin: Das Land ist in einer Übergangsphase, sowohl, was die Sicherheit betrifft, als auch, was die Regierungsbildung betrifft. Ich hatte das Gefühl, alle warten ein bisschen ab, was passiert.

Das hat auch direkte Auswirkungen auf die Flüchtlinge in den Nachbarländern und die Vertriebenen innerhalb von Irak. Die Rückkehr dieser Leute hat seit den Wahlen im März stark abgenommen.

swissinfo.ch: Sie hatten vor der Mission die irakischen Behörden aufgerufen, intern Vertriebene nicht weiter zu vertreiben. Was ist konkret das Problem?

W.K.: Es war nicht so sehr die Weitervertreibung. Die Regierung hat, als die Leute nach den Gewaltakten 2006 zwischen den religiösen Gemeinschaften fliehen mussten, eigentlich keine Auffangstrukturen zur Verfügung gestellt. Keine Lager, keine kollektiven Unterkünfte.

Das bedeutet, dass die ärmeren Bevölkerungsteile sich auf öffentlichem Land oder in öffentlichen Gebäuden niedergelassen haben. Dort waren sie ein Stück weit geschützt. Aber dieses Moratorium vor einer Ausweisung aus diesen Gebieten oder Gebäuden wurde aufgehoben.

Mein Appell war: Stellt die Leute nicht auf die Strasse, das verschärft nur die Probleme – humanitär, sozial –, sondern lasst sie dort leben, wo sie jetzt sind, bis die Regierung mit einem Plan kommt, der genau festlegen würde, wie man nun Lösungen für diese vertriebenen Menschen finden könnte, sei es Rückkehr oder Ansiedlung dort wo sie sind.

swissinfo.ch: Hat Ihr Appell gefruchtet?

W.K.: Diesem Appell hat man teilweise Gehör geschenkt. Ich hatte eine sehr lange Diskussion mit Premierminister Maliki, der sehr offen war für die Idee, dass die zuständigen Ministerien nun einen Plan, eine Strategie ausarbeiten sollen, um Lösungen zu finden für diese Personen, inklusive Zuteilung von Land, wo sie Häuser bauen könnten. Von daher gesehen denke ich, war es gut.

Eine Zusicherung, für Wegweisungen aus diesen öffentlichen Gebäuden und Ländereien wieder ein Moratorium zu erklären, kam nicht. Der Vorschlag wurde aber nicht abgelehnt. Wir werden sehen, was da geschieht.

swissinfo.ch: Sie ziehen also eher eine gemischte Bilanz von diesem Besuch?

W.K.: Gemischt insofern, als wir in der Situation einer Übergangsregierung sind. Ich konnte nicht erwarten, dass jetzt die grossen Weichenstellungen vorgenommen werden, bevor die neue Regierung dann wirklich im Amt ist.

Ermutigend ist, dass ich wenigstens die Zusicherung bekam, dass eine umfassende Strategie und ein Aktionsplan entworfen werden sollen, wie man die Vertriebenen besser schützen und unterstützen und für sie dauerhafte Lösungen finden kann, statt wie jetzt jeweils ad hoc zu reagieren, und dass die UNO da mit einbezogen wird.

swissinfo.ch: Sie besuchten zwei Lager in Bagdad und eines in Erbil. Warum kam ein Besuch in der Nähe Bagdads nicht zu Stande?

W.K.: In der Nähe von Bagdad, in Diyala, gibt es ein interessantes Projekt. Es werden dort Häuser, Infrastruktur, Gesundheits-Versorgung etc. aufgebaut, um den Vertriebenen die Rückkehr zu ermöglichen. Ein gutes, integriertes Projekt mit guter Zusammenarbeit zwischen den Behörden und der UNO inklusive ihren Entwicklungs-Akteuren.

Aber während dieser Woche brachen wieder Gewaltakte, Kämpfe zwischen verschiedenen Milizen aus. Und dann war es schlicht zu gefährlich, dorthin zu gehen.

swissinfo.ch: Was können Sie in Ihrem letzten Monat im Amt noch für den Irak tun?

W.K.: Wir werden jetzt einen ausführlichen Bericht vorbereiten, der im kommenden März vom UNO-Menschenrechts-Rat in Genf debattiert wird.

Der Bericht sollte verschiedenen Akteuren der Regierung selbst, der UNO, aber auch etwa den wichtigen Geldgebern helfen, die Suche nach Lösungen für die im Irak Vertriebenen stärker voranzutreiben.

Das Problem ist: Irak hat derart viele Probleme, dass es eine echte Herausforderung ist, sicherzustellen, dass die Rückkehr oder lokale Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen aus den Nachbarländern genügend hoch oben auf der Prioritätenliste bleibt. Und ich hoffe, dass mein Bericht helfen kann.

Ich werde auch in zwei Wochen in New York Gespräche führen mit wichtigen Geberstaaten, mit der UNO selbst. Das ist das Wenige, was ich noch tun kann.

swissinfo.ch: Sie werden ab Januar 2011 ein neues Kompetenzzentrum des Bundes für Menschenrechte leiten. Eine Empfehlung der UNO an ihre Mitgliedstaaten, von denen etwa 40 bereit ein solches Zentrum geschaffen haben. Was können Sie damit erreichen?

W.K.: Dieses Zentrum hat gemäss den Vorstellungen des Bundes vor allem einen Dienstleistungs-Charakter. Wir sollen die Behörden auf allen Stufen des Gemeinwesens, bis herunter zu den Gemeinden, aber auch Verbände oder die Wirtschaft in Menschenrechts-Fragen beraten.

Wir erstellen Studien, haben einen Informations-Auftrag und können punktuell auch Ausbildung betreiben. Das Zentrum ist also nicht wie von der UNO empfohlen eine unabhängige Menschenrechtsinstitution, d.h. betreffend Einfluss müssen wir realistisch sein.

Auf der anderen Seite fehlten der Schweiz bisher eine Institution und die Mechanismen, um die Kritiken und vielen Empfehlungen der UNO und des Europarats zu evaluieren und, soweit sie berechtigt sind, umzusetzen.

Wir wollen in diesem Zusammenhang das nötige Fachwissen zur Verfügung stellen und helfen, ein Forum zur Verfügung zu stellen, wo die Betroffenen, seien es Behörden, seien es Organisationen oder die Zivilgesellschaft, zusammenkommen können, um konkret zu diskutieren, was sich machen lässt.

swissinfo.ch: Hand aufs Herz: Haben wir in der Schweiz ein Problem mit Menschenrechten?

W.K.: Wir haben ganz sicher nicht ein Problem mit Menschenrechten im Sinne von systematischer Folter, von Morden und dergleichen. Aber Menschenrechte betreffen sehr viele Lebensbereiche und kein Staat der Welt kann von sich behaupten, überall völlig perfekt zu sein.

In der Schweiz gibt es verschiedene Problembereiche. Wir werden beispielsweise immer wieder kritisiert wegen Misshandlungen durch die Polizei. Uns fehlt beispielsweise schon die Basis, um diese Vorwürfe beantworten zu können, da keine Statistik betreffend solcher Vorwürfe existiert.

Wir haben Probleme im Bereich Frauenhandel. Viele der Frauen im Sexgewerbe sind ja nicht freiwillig hier. Es gibt ab und zu mal Verurteilungen, aber insgesamt machen wir hier zu wenig.

Die Schweiz hat auch recht grosse Probleme im Bereich häusliche Gewalt. Wenn in der Schweiz getötet wird, dann sehr oft innerhalb von Familien und Paarbeziehungen. Auch da gibt es Kantone, die sehr gut darauf reagieren, aber auch andere, die eindeutig einen Nachholbedarf haben.

Es geht uns also nicht um Einzelfälle, dafür haben wir ja auch die Justiz, die funktioniert, sondern mehr um die institutionellen Fragen: Was kann der Staat besser vorkehren, um in diesen Problembereichen eine Verbesserung der Situation hinzukriegen?

Der 1951 in Zürich geborene Walter Kälin studierte an den Universitäten Freiburg, Bern und Harvard.

Seit 1985 ist Kälin Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern.

Er gilt als international renommierter Experte in Sachen Menschenrechte.

Von 1991 bis 1992 war er Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechts-Kommission für Kuwait unter irakischer Besatzung.

Von 2003 bis 2008 war Kälin als erster Schweizer Mitglied des UNO-Menschenrechts-Ausschusses und massgeblich am Aufbau des UNO-Menschenrechtsrats beteiligt.

Seit 2004 und bis Ende Oktober 2010 ist er Gesandter des UNO-Generalsekretärs für die Menschenrechte intern Vertriebener.

Ab Januar 2011 wird Kälin das neue Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte in Bern präsidieren.

Beteiligt am Projekt sind die Universitäten Bern, Freiburg, Neuenburg und Zürich sowie das Universitäts-Institut Kurt Bösch, die Pädagogische Hochschule Zentralschweiz und der Verein Humanrights.ch (MERS).

Das Kompetenzzentrum soll die Umsetzung internationaler Verpflichtungen bezüglich Menschenrechte fördern – durch Beratung, Information und Austausch unter den verschiedenen Akteuren.

Der Betrieb ist vorerst auf fünf Jahre befristet. Nach vier Jahren wird die Arbeit evaluiert. Die Ergebnisse werden dem Bundesrat unterbreitet.

Neben Kälin sind oder waren diverse Schweizer bereits in hohen Ämtern bei den Vereinten Nationen tätig.

Alt Bundesrat Joseph Deiss ist derzeit Präsident der UNO-Generalversammlung, Prof. Lucius Caflisch Mitglied der UNO-Völkerrechts-Kommission, Prof. Helen Keller unabhängige Expertin des UNO-Menschenrechts-Ausschusses, Prof. Thomas Stocker Ko-Präsident der Arbeitsgruppe I des Weltklimarats, Prof. Jean Ziegler Mitglied des Beratenden Ausschusses des Menschenrechts-Rats und der ehemalige ETH-Rektor Konrad Osterwalder ist Rektor der UNO-Universität.

Abgetreten sind alt Bundesrat Adolf Ogi als Sonderberater des UNO-Generalsekretärs für Sport im Dienst von Sicherheit und Frieden, Prof. Nicolas Michel als Untergeneralsekretär für Rechtsangelegenheiten und Botschafterin Carla del Ponte als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien.

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