Warum hilft die Schweiz bei Reformen in der Ukraine?
Die Schweiz unterstützt Reformen in der Ukraine vor allem aufgrund ihrer eigenen Interessen.
Die Ukraine ist einer der grössten Staaten in Europa. Gleichzeitig ist es eines der ärmsten Länder des Kontinents. Die Schweiz unterstützt die Ukraine aktiv bei der Durchführung von Reformen. Bereits 1999 eröffnete Bern in Kiew ein Kooperationsbüro. Nun unterstützt die Schweiz grundlegende gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Transformationen in der Ukraine, wobei der Schwerpunkt auf fünf Hauptbereichen liegt.
Erstens bemüht sich die Schweiz um eine friedliche Lösung des Konflikts in der Ostukraine. Die Schweiz fördert den Dialog und unternimmt auf bilateraler und multilateraler Ebene geeignete diplomatische Schritte. Die humanitäre Hilfe der Schweiz wird unparteiisch auf beiden Seiten der "Frontlinie" in der Ostukraine geleistet. Warum macht die Schweiz das?
Benno Zogg, Forscher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, erklärt: "Als kleiner Staat, der kein Mitglied der NATO oder der EU ist, versteht die Schweiz jedoch, dass ihre Stabilität und ihr Wohlstand direkt von einer europäischen Sicherheitsarchitektur abhängen, die auf Regeln, Ordnung, Recht und Institutionen beruht."
Deshalb ist die Position der Schweiz zur Annexion der Krimhalbinsel durch die Russische Föderation so eindeutig: Die Annexion verstösst aus Schweizer Sicht gegen das Völkerrecht und wird von ihr als eine direkte Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine angeschaut.
Die Schweiz anerkennt also die Annexion der Krim nicht. Sie beteiligt sich jedoch nicht an den von der EU und den USA beschlossenen Sanktionen gegen Personen und Unternehmen aus Russland.
"Die Schweiz hat eine Reihe von Unternehmen und Politikern aus Russland de facto unterstützt. Die so interpretierte 'Neutralität' ruft natürlich Kritik von allen Seiten hervor", sagt Zogg. Zusätzlich in Kritik geriet die Schweiz für ihre Beteiligung an der Herstellung von Lüftungssystemen in der Ukraine, wodurch sie in Wahrheit einen militärisch-industriellen Komplex in der Ukraine unterstützte.
Gleichzeitig sind die Friedensbemühungen der Schweiz in der Ukraine kein Akt der Nächstenliebe, sondern eine Investition in die Stärkung der Grundlagen einer stabilen rechtlichen und politischen Ordnung in Europa.
Das zweite Ziel der Schweiz in der Ukraine ist die Unterstützung der nachhaltigen Entwicklung. Vorrangig ist die Förderung eines ressourcenschonenden Wirtschaftswachstums und die Verbesserung der Lebensqualität in Städten. Warum widmet die Schweiz diesem Thema so viel Aufmerksamkeit?
Auch dies nicht nur aus reinem Altruismus. Es liegt in ihrem Interesse, ukrainische Städte attraktiv für ausländische Investoren zu machen. Die Schweiz ist interessiert an der Erschliessung neuer Märkte, denn ihre Wirtschaft ist weitgehend exportorientiert.
Das dritte Ziel der Schweiz ist die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen sowie die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft insgesamt. Die Schweiz konzentriert ihre Bemühungen beispielsweise auf den Aufbau nachhaltiger landwirtschaftlicher Wertschöpfungsketten und die Erleichterung des Zugangs der Landwirte zu Krediten. Zu diesem Zweck hilft die Schweiz der Ukraine bei der Entwicklung und Umsetzung innovativer Finanzinstrumente.
Warum hebt Bern diesen Bereich der Zusammenarbeit separat hervor? Die Schweiz ist nicht nur interessiert an der Erschliessung neuer Märkte, sondern auch an der Entstehung möglichst vieler ausländischer Unternehmen, die Schweizer Dienstleistungen, Waren und Komponenten kaufen, was einen Beitrag zur Erhaltung der Arbeitsplätze in der Schweiz leistet.
Der vierte Bereich der Zusammenarbeit zwischen Bern und Kiew betrifft den Gesundheitssektor, wobei die Bedürfnisse der vom Konflikt betroffenen Menschen besonders berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck hilft die Schweiz der Ukraine, Verwaltungsprozesse und medizinische Managementinstrumente zu verbessern, um gleichzeitig ihre Effizienz zu verbessern und den Overhead zu reduzieren.
Bern orientiert sich einerseits an humanitären Überlegungen. Es geht aber auch darum, einen Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine zu verhindern. Aus Sicht der Schweiz ist es besser, wenn die vom Konflikt betroffenen Personen vor Ort die bestmögliche medizinische Versorgung erhalten.
Besonders hervorzuheben ist die Unterstützung der Schweiz in der Ukraine für die Prozesse, die zur Stärkung demokratischer Institutionen führen. Dazu gehört auch die Stärkung der lokalen Gebietskörperschaften sowie die Einführung von Elementen der direkten Demokratie (fünftes Ziel), um möglichst breite Bevölkerungsschichten in politische Prozesse und Verfahren einzubeziehen.
Schweizer Experten und Expertinnen beteiligen sich beispielsweise als Berater an der Ausarbeitung eines Entwurfs eines ukrainischen Gesetzes, das direktdemokratische Instrumente regeln soll. Laut dem Schweizer Demokratieexperten Bruno Kaufmann schafft dieses Gesetz – trotz anfänglicher Mängel – eine klare Rechtsgrundlage für ein künftiges ukrainisches Referendum. Das Gesetz biete zahlreiche Möglichkeiten zur Stärkung der Demokratie in der Ukraine.
Im offiziellen Bern heisst es: "Nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2019 hat die neue Regierung von Präsident V. Zelensky ihre Bereitschaft bekräftigt, den Reformprozess fortzusetzen, auch im Bereich der Ausweitung der Rechte und Instrumente der direkten Demokratie. Aus Sicht der offiziellen Schweiz deutet dies darauf hin, dass die Ukraine beabsichtigt, sich weiter in Richtung euro-atlantischer Standards zu bewegen."
Seit Beginn des Konflikts im April 2014 sind in der Ostukraine mehr als 13'000 Menschen umgekommen. Bis 2019 wurden rund 1,4 Millionen Menschen intern vertrieben. Die Schweiz ist besorgt über eine mögliche Destabilisierung des Landes. Die Stärkung der Demokratie in der Ukraine ist für die Schweiz ein Beitrag zur Stabilisierung.
Die Ukraine-Politik der Schweiz passt zur allgemeinen Osteuropa-Strategie der Schweiz. Kürzlich hat die Schweiz beispielsweise ihr Botschaftsbüro in Minsk in eine vollwertige Botschaft verwandelt. Warum macht die Schweiz das?
CVP-Politikerin Elisabeth Schneider-Schneiter, Mitglied der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, wies 2019 darauf hin, dass die Schweiz die Region Osteuropa nicht vernachlässigen sollte. Die Schliessung von kleinen Botschaften in Osteuropa lehnte sie ab. "Es ist falsch, Staaten im Osten der EU den Rücken zu kehren. Das stärkt nur Russland", sagte die Schweizer Parlamentarierin. Und dies ist eine weitere Antwort auf die Frage, warum die Schweiz in den nächsten drei Jahren 108 Millionen Franken ausgibt, um der Ukraine zu helfen.

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