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Wenn der Metzger die Telefonkabel sucht

Diese Strassburger Bank erfüllt ihren Zweck ausnahmsweise zu unserer vollsten Zufriedenheit. Jonas Dunkel

Gerne zeigt sich Frankreich als Quelle unerschöpflichen kulturellen Reichtums. In der Rolle des öffentlichen Dienstleisters stösst die Grande Nation hingegen gelegentlich an ihre Grenzen. Erfahrungen eines jungen Auslandschweizers aus Strassburg.

Am Anfang war eine Gleichung mit zwei unbekannten Variabeln. Damit der Vertrag mit dem Mobilfunk-Anbieter in Kraft treten kann, ist eine französische Kontonummer erforderlich, in der Umgangssprache nur “RIB” genannt (relevé d’identité bancaire), eine Art Zauberwort in Frankreich. Gleichzeitig ist eine französische Nummer für die Eröffnung eines Bankkontos unabdingbar.

Das französische System begrüsst den Gast mit einem kniffligen Rätsel. Die etwas unbeholfene Bankangestellte löst die Gleichung nach einigem Zögern, indem sie die persönlichen Daten mit einer Fantasienummer fälscht.

Die Bank wartet fortan mit weiteren Knacknüssen auf: Weil der Schlüssel des Safes klemme, könne die bestellte Kreditkarte momentan nicht in Empfang genommen werden. “Kommen Sie in zirka einer Stunde wieder”, meint der Strassburger Bankangestellte.

Wenig später leugnet der gleiche Beamte die Existenz einer automatischen Sperre für Internet-Transaktionen, wie beispielsweise dem Aufladen einer mobilen Internetverbindung. “Der Internet-Anbieter ist schuld”, bemerkt er. Dass dies nicht zutrifft, stellt sich erst später heraus.

Mangel an Flexibilität

Befremdende Vorgänge im Zusammenhang mit dem Bankenwesen sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Bestätigt wird dieser Eindruck durch Erzählungen zahlreicher anderer Konsumenten. 

Auch beim französischen E-Banking (elektronisches Bankgeschäft) macht der helvetische Kunde neue Erfahrungen. Während er in der Schweiz Herr seiner eigenen Transaktionen ist, muss er am Strassburger Schalter jede einzelne RIB-Nummer manuell eintippen und registrieren lassen, ehe er per Internet Transaktionen durchführen kann.

E-Banking ist übrigens bei vielen Banken nur innerhalb Frankreichs möglich. Sobald der französische RIB-Raum verlassen wird, ist es nicht mehr garantiert. In solchen Fällen kann es vorkommen, dass man den Bankier davon überzeugen muss, statt einer RIB eine IBAN (International Bank Account Number) zu verwenden.

Bürokratischer Apparat

Was im Bankensektor zur Tagesordnung gehört, wiederholt sich im Postwesen und im Umgang mit diversen Telekommunikations-Anbietern.

Ein harmloser Umzug innerhalb von Strassburg wird zum Auftakt einer veritablen Geduldsprobe. Obwohl die neue Wohnung über einen Telefonanschluss verfügt, kann France Télécom die Leitung aus fadenscheinigen Gründen nicht freigeben. Eine neue Telefonnummer und ein Rendez-vous mit einem Techniker von France Télécom sind erforderlich.

France Télécom? Das Unternehmen geriet kürzlich in die Schlagzeilen, als innert 18 Monaten 25 Arbeitnehmer den Freitod wählten. In Abschiedsbriefen machten einige von ihnen den Arbeitgeber für ihre Entscheidung verantwortlich. Die Folge war eine Welle der Empörung in der Öffentlichkeit sowie Untersuchungen zu Stress und Mobbing am Arbeitsplatz.

Suche nach dem Telefonkasten

Der Techniker von France Télécom findet selbst nach einstündiger Suche den Telefonkasten nicht, in dem die Leitungen des Hauses zusammentreffen. Nun ist die Kartographie-Abteilung gefordert, die in  nächsten Schritten den Plan des Gebäudes im Archiv finden-, einlesen- und abschliessend per E-Mail an den Techniker senden soll.

France Télécom hat danach aber keine Lust mehr, die Spur nach den verschollenen Telefonleitungen weiterzuverfolgen und legt die Geschichte unter “unlösbare Fälle” ab.

Nach einem Monat Wartezeit muss der Kunde die Fährte selbst aufnehmen. Dazu muss man sich erst mal durch den Telefonautomaten durchkämpfen, ehe man nach minutenlangem Warten einem Menschen nochmals den ganzen Fall schildern muss.

Eine Revolution muss her

“Es ist doch klar, dass sie die Leitungen nicht finden, wenn sie einen Metzger vorbei schicken!” spottet ein Nachbar, während er mit dem Zeigefinger auf einen Kasten zeigt. “Dort sind die Leitungen, das weiss doch jeder.”

Die Franzosen nehmen die Unzulänglichkeiten bei öffentlichen Dienstleistungen scheinbar achselzuckend hin. Das Vertrauen in derartige Unternehmen ist gering. Die Erfahrungen in Strassburg zeigen auch, dass in manchen Bereichen sowohl Kompetenz wie auch Kundennähe fehlen.

In Frankreich ist nicht der Kunde König, sondern der komplexe bürokratische Apparat. Dieser scheint sich am Führungsstil alter Herrscher zu orientieren und lässt reichlich Willkür walten. Wann steht die nächste Revolution an, Frankreich?

Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.

Zu ihnen gehört auch Jonas Dunkel, der von August 2010 bis Januar 2011 für swissinfo.ch über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Strassburg berichtet.

Jonas Dunkel ist am 23. September 1981 in Vevey, Kanton Waadt, geboren.

Nach den Schulen studierte er an der Universität Freiburg Medien- und Kommunikations-Wissenschaft sowie Journalismus.

2009 schloss er das Studium mit einer Lizentiats-Arbeit über die narrative Entmythologisierung in den Frühwerken des Film-Regisseurs Jean-Luc Godard ab.

Im Winter 2010 folgt ein dreimonatiges Praktikum in der Multimedia-Redaktion des europäischen Kulturkanals ARTE in Strassburg.

Seit August ist er als Stellvertretung wieder in der Multimedia-Redaktion von ARTE tätig.

Zu seinen Hobbys gehören Fussball, Segeln, Tennis, Radsport, Literatur, Film und Geschichte.

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