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Wenn eine Ziege neue Hoffnung gibt

swissinfo C Helmle

Die Neuenburgerin Madeleine Grize lebt seit sechs Jahren in der Wüstenstadt Atar in Mauretanien. Die Schweizer Rentnerin hat sich für ein aussergewöhnliches Leben entschieden. Sie führt eine Pension und widmet sich humanitären Aufgaben.

Wir treffen Madeleine Grize im Haus einer Bekannten in der Nähe von Neuenburg. Auf der Terrasse geniesst sie Anfang August zusammen mit ihrem mauretanischen Geschäftspartner Nema Kabach die relativ kühlen Temperaturen.

“Als ich am 3.Juni von Atar in die Schweiz aufbrach, zeigte das Thermometer in meinem Haus 39 Grad an; bei meiner Ankunft in Genf regnete es”, sagt Madeleine Grize, die sich einfach Mado nennen lässt. Jeden Sommer entflieht sie der sengenden Hitze in ihrer Wahlheimat.

Dabei ist Madeleine Grize durchaus an die hohen Temperaturen gewöhnt. Denn die Wüste ist ihre zweite Heimat geworden.

“30 Jahre lang bin ich mit meinem Mann und einem Auto mit Vierradantrieb durch Wüsten gefahren.”

Doch im Alter von 75 Jahren ist es schwierig geworden, die brütende Hitze des Sahara-Sommers zu ertragen.

Durch Zufall in Mauretanien

Eigentlich kam Madeleine Grize durch Zufall nach Atar, in den Nordwesten Mauretaniens. “Es war immer unser Wunsch, Mauretanien zu besuchen. Doch mein Mann ist 2002 gestorben, bevor wir den Traum verwirklichen konnten. So fuhr ich eben alleine hin.”

Die Pension El Khayma in Atar war damals ihr Basislager. Und der Eigentümer der Herberge schlug ihr nach einiger Zeit vor, seine Teilhaberin zu werden. Sie war unentschlossen, zumal sie zu Hause einen Hund versorgen musste.

Nie hätte sie diesen allein gelassen, um in ein anderes Land zu ziehen. Doch er starb. “Das war ein Zeichen des Schicksals”, erinnert sich Madeleine Grize.

Und es kam zu neuen Überraschungen: Im Jahr 2005 wird sie von Freunden aus der Schweiz besucht. Diese sind schockiert von der Armut in dem Städtchen mit seinen rund 35’000 Einwohnern. “Sie fragten mich, ob sie nicht etwas für die ärmsten Familien tun könnten”, sagt Mado. Es war der Beginn der “Aktion Ziege”.

Eine Ziege zum Ausleihen

Die Idee dieses Projekts ist einfach und effizient zugleich: Madeleine Grize kauft eine Ziege und ein Zicklein, welche sie Familien ausleiht, mitsamt etwas Futter. Bei den Familien handelt es sich zumeist um alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern.

Drei Jahre kümmert sich die Familie um die Tiere, nutzt die Ziegenmilch und kann eine Mini-Aufzucht betreiben, wenn junge Tiere geboren werden. Danach müssen eine Ziege und ein Zicklein zurückgegeben werden.

“Eine Ziege gibt bis zu 3 Liter Milch pro Tag. Ein Liter kann für 2Franken 50 verkauft werden, davon lassen sich zwei Kilo Reis erwerben. Die männlichen Ziegen, die Böcke, werden hingegen gemästet und schliesslich verkauft”, sagt die Initiantin des Projekts.

Das Projekt wächst rasant, auch dank der Hilfe aus der Schweiz. Im ersten Jahr gab es sieben Ziegen, mittlerweile sind es schon 36. “Als das erste Geld floss, haben wir einen Verein mit dem Namen Achema gegründet,” erzählt Madeleine Grize.

Dabei geht es um bescheidene Beträge. Im ersten Jahr verwendete sie nur 1500 von 5000 gespendeten Franken. Doch die Effizienz eines Projekts hängt nicht nur vom Geld ab: “Eine der ersten Frauen, die eine Ziege ausgeliehen hat, besitzt heute vier. Das reicht in Atar, um zu leben”, sagt Grize.

Dabei bedarf das Projekt einer gewissen Kontrolle: “Sonst riskiert man, dass die Ziegen bei den Familien gleich im Kochtopf landen.”

Nach den Ziegen die Wüstentaschen

Madeleine Grize und ihre Freunde beliessen es nicht bei der Aktion Ziege. 2007 entstand mit den “Wüstentaschen” ein weiteres Projekt. Grundmaterial sind bunte Plastiktüten, die am Markt verteilt werden, sowie die Verschlüsse von Aluminium-Dosen, die gesammelt und so rezykliert werden.

Mado bastelte mit diesem Material ihre erste Tasche in der Schweiz und brachte die Technik dann den Frauen in Mauretanien bei. Für jede Tasche werden 20 bis 30 Franken bezahlt. Mit der Produktion von vier Taschen im Monat lässt sich der mauretanische Mindestlohn erreichen.

Doch es geht – wie bei den Ziegen – nicht nur um Geld: “Es geht vor allem darum, dass die Frauen Verantwortung übernehmen. Ich versuche zu erklären, dass bessere Arbeit auch besser bezahlt wird.”

Der erste Verkauf dieser Taschen in der Schweiz im Jahr 2008 war ein grosser Erfolg. Alle Taschen waren in Kürze verkauft! Dabei kommt der Erlös drei Verteilungszentren für Nahrungsmittel zu Gute. Madeleine Grize hat es ihrerseits stets abgelehnt, für ihr humanitäres Engagement bezahlt zu werden.

60 Rappen pro Tag und Kind

In jedem Zentrum erhalten einige hundert untergewichtige Kinder zwischen zwei und vier Jahren ein Frühstück und Mittagessen. Zwei Mal wöchentlich kommt eine Krankenschwester vorbei, und die Behörden führen in diesen Zentren Impfungen durch.

“Mit 60 Rappen pro Tag und Kind können wir das Essen und die Infrastruktur bezahlen, inklusive zwei Köche und einen Wächter”, sagt Mado.

Trotz dieser Erfolge ist Madeleine Grize bescheiden geblieben. Sie ist überzeugt, dass man mit der lokalen Bevölkerung ehrlich zusammenarbeiten muss: “Wir müssen keine Lektionen erteilen.”

Hat sie nicht den Eindruck, gegen Windmühlen zu kämpfen? Hat sie nie Lust gehabt, alles aufzugeben und in die reiche Schweiz zurückzukehren? “Es gab solche Moment, aber sie dauern nicht lange”, meint sie.

Und sie erzählt das Gleichnis eines alten Mannes, der nach einem Sturm Seesterne am Strand sammelt und ins Meer zurückwirft. Ein anderer Mann macht ihn lächerlich, weil er sowieso nicht alle gestrandeten Seesterne retten könne. “Aber immerhin einige kann ich retten”, habe er geantwortet.

“So geht es mir auch: Wenn ich auch nur einer Frau geholfen habe, Verantwortung zu übernehmen, ist schon viel erreicht.”

Daniele Mariani, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Mauretanien hat eine Fläche von 1,03 Millionen Quadratkilometer. Dies entspricht 25 Mal der Schweiz.

Gemäss Angaben der Weltbank zählt die Bevölkerung 3,12 Millionen Menschen (2007); die Bevölkerungsdichte beträgt 3 Einwohner pro Quadratkilometer.

Ein Drittel der Bevölkerung lebt in der Hauptstadt Nuakschott. Praktisch alle Einwohner sind Muslime.

Die Lebenserwartung beträgt 64 Jahre, die Kindersterblichkeitsrate 119 auf 1000 (in der Schweiz 5/1000). Das Bruttoinlandprodukt pro Einwohner und Jahr erreicht 840 Dollar.

Mauretanien erhielt 1960 seine Unabhängigkeit von Frankreich.

Ould Daddah war bis 1978 erster Staatspräsident. Er wurde von einer Militärregierung abgelöst.

Die ersten freien Wahlen fanden im März 2007 statt. Gewählt wurde Sidi Mohamed Ould Cheikh Abdallahi.

Ein gutes Jahr später, im August 2008, kamen die Militärs durch einen Putsch erneut an die Macht. Seither wird das Land von General Mohamed Ould Abdel Aziz geführt.

Mittlerweile ist der Tourismus, eine der Haupteinnahmequelle für Mauretanien und namentlich für Atar, zusammengebrochen.

Die Tötung von vier französischen Touristen im Dezember 2007 in der Region Aleg hat westliche Regierung dazu veranlasst, eine Reisewarnung für Mauretanien auszugeben.

Gewarnt wird besonders vor Entführungen und Anschlägen.

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