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Wenn im Berliner Theater der Muezzin ruft

Ein Muezzin ruft zum Gebet (Bild aus Nordzypern). cips/vidaluz

Der Schweizer Theaterregisseur Stefan Kaegi arbeitet nicht mit Schauspielern und inszeniert auch kein Drama, sondern lässt Menschen auf der Bühne aus ihrem Leben erzählen. In seinem Stück "Radio Muezzin" kommen vier Gebetsrufer aus Kairo zu Wort.

Hussein Goda ist seit seiner Kindheit blind und Muezzin von Beruf. Fünfmal am Tag ruft der Familienvater sein “Allahu akbar” über die Dächer Kairos.

Doch an diesem Abend sitzt der bullig wirkende Mann mit der markanten schwarzen Brille auf einem Plastikstuhl auf einer Bühne in Berlin.

Hussein Goda und drei weitere Muezzine sind die Protagonisten des Theaterstücks “Radio Muezzin”, das am 3. März in Berlin Premiere hatte und diesen Sommer auf verschiedenen europäischen Theaterfestivals gezeigt wird.

“Radio Muezzin” ist dokumentarisches Theater: Auf der Bühne stehen keine Schauspieler, sondern Menschen, die dem Publikum aus ihrem Leben erzählen, authentisch und oft sehr persönlich.

Auf Dias und Videofilmen, die hinter ihnen eingeblendet werden, stellen die Muezzine ihre Familie und ihren Wohnort vor und erläutern, wie und warum sie Gebetsrufer geworden sind. Alles mit viel Gesang und Untertiteln, denn die Muezzine sprechen nur arabisch.

Hinter dem Projekt, das vom Goethe-Institut in Kairo unterstützt wird, steckt der Schweizer Stefan Kaegi. Der 36-Jährige inszeniert seit vielen Jahren dokumentarisches Theater. Er hat zum Beispiel mit bulgarischen Lastwagenfahrern gearbeitet, mit Schweizer Modelleisenbahnern und multinationalen Stewardessen.

Die Idee für sein aktuelles Stück kam dem gebürtigen Solothurner, als er in Amman weilte und mitbekam, dass die Regierung Kairos plant, in Zukunft den Ruf des Muezzins zentral über Radio erschallen zu lassen. Statt der “Kakophonie” von beinahe 30’000 Muezzin-Rufern wird dann nur noch eine einzige Stimme über der ganzen Stadt zu hören sein.

Ein typischer Blindenberuf

“Ich wollte mehr wissen über den Beruf des Muezzins”. Also hat Kaegi, der in Giessen Theaterwissenschaften studiert hatte, rund 40 Muezzine in Kairo besucht und sie mit Hilfe eines Dolmetschers “gecastet”, bis er die vier gefunden hat, die in Berlin auf der Bühne zu sehen sind.

Laut Kaegi repräsentieren sie den typischen Querschnitt ihres Berufs. So waren die meisten Gebetsrufer früher, als sie für ihren Ruf noch auf das Minarett stiegen, blind – damit sie nicht bei den Nachbarn in die Häuser schauen konnten.

Heute nimmt Hussein Goda wie alle anderen ein Mikrofon in die Hand und lässt seine Stimme per Lautsprecher über die Dächer erklingen. Sein älterer Kollege Abdel Mursi Abdel Samia mit schlohweissem Bart war Elektriker, bevor ihn ein Unfall zwang, seinen Beruf aufzugeben. Als er in einer Moschee aushalf, entdeckte man seine schöne Stimme.

Der dritte Muezzin in Kaegis Stück heisst Mansur Abdel Salam, stammt vom Land und arbeitet nebenbei in einer Bäckerei, um seinen Lohn von 50 Euro im Monat aufzubessern.

Der vierte schliesslich ist ein Mann von Welt. “Als Kind wollte ich Fussballstar werden”, erzählt Mohammed Aly Farag in Anzug und Krawatte. Heute ist er ein preisgekrönter Koranrezitator, der an internationalen Wettbewerben teilnimmt.

Der Mitdreissiger repräsentiert nicht nur die neue Generation von Gebetsrufern – er ist auch einer der insgesamt 30 Muezzine, deren Stimmen für den künftigen Radio-Ruf ausgewählt wurden.

Dominospielen geht nicht

Die Arbeit mit den Muezzinen stellte sich für Kaegi als Gratwanderung heraus. Was interessiert den westlichen Zuschauer? Wie vermeidet man Klischees über den Islam? Wie viel Freiraum gestattet man den Protagonisten?

“Es ist ein enges Korsett, in dem wir uns bewegen”, sagt Kaegi. Kompromisse seien unumgänglich. Anders als beim Dokumentarfilm, wo die besten Interviews zusammengeschnitten werden, hat der Theatermacher keine Macht über den Originalton seiner Darsteller.

“Es gab viele Textstellen, die ich wieder kippen musste, weil sie den Muezzinen im Verlauf der Proben missfallen haben.” Manches verweigerten die vier Männer auch schlichtweg. Etwa, Domino auf der Bühne zu spielen – obwohl das zu ihrem Alltag gehört. Oder sich auf der Bühne hinzulegen.

“Sie sind stolz auf ihren Beruf und wollen sich von der besten Seite zeigen”, erklärt Kaegi. Ein gewichtiges Wort mitzureden hatten auch die Imame der Moscheen, aus denen die Gebetsrufer stammen. Und das ägyptische Staatsministerium für religiöse Stiftungen, der offizielle Arbeitgeber der Muezzine.

Dem Ministerium missfiel unter anderem, dass die Kandidaten nicht so gebildet waren und ein Blinder darunter war. Doch zu guter Letzt bekamen die Muezzine tatsächlich Urlaub.

Allerdings hat Kaegi “Radio Muezzin”, das von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert wurde, vor der Abreise nur einmal in Kairo gezeigt. Der Regisseur wollte nicht riskieren, dass seinen vier Hauptdarstellern womöglich doch noch im letzten Moment die Ausreise verboten wird.

swissinfo, Paola Carega, Berlin

“Radio Muezzin” ist eine Produktion des Theaters HAU Berlin und des Goethe-Instituts Ägypten.

In Koproduktion sind das Athens Festival, Bonlieu Scène nationale Annecy, Festival d’Avignon, steirischer Herbst Festival (Graz) und Zürcher Theater Spektakel beteiligt.

Er ist kein Geistlicher, sondern gehört zum Personal der Moschee.

Noch bis in die 1950er-Jahre stiegen die Muezzine auf das Minarett, um den Gebetsruf, den Adhan, fünfmal täglich in alle vier Himmelsrichtungen über die Stadt zu rufen.

Die meisten Muezzine sind Staatsangestellte und stammen aus einfachen Verhältnissen; viele schlafen auch in der Moschee und können nur selten ihre Familie besuchen, die oft noch im Dorf wohnt.

Neben dem Gebetsrufer sind sie auch Hausmeister des Gotteshauses, die aufschliessen, Reparaturen übernehmen und putzen.

Im heutigen Kairo mit seinen rund 30’000 Moscheen erschallen die Stimmen der Muezzine über Mikrofon und Lautsprecher.

Dabei vermischen sich ihre Rufe zu einem vielfältigen Klangteppich – oder zu einer Kakophonie, wie manche sagen.

Das soll sich bald ändern: Das Ministerium für religiöse Stiftungen will nächstes Jahr den zentralen Muezzinruf einführen.

Über einen Radiokanal soll die Stimme des Ausrufers aus allen staatlichen Moscheen synchron erschallen; insgesamt 30 Muezzine sind ausgewählt worden, künftig die Kairoer zum Gebet aufzurufen.

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