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Wenn man Gaddafi auf die Füsse tritt…

Italiens Premier Silvio Berlusconi tut viel für gute Beziehungen zum libyschen Herrscher Muammar Gaddafi - zum Missfallen der Schweizerinnen und Schweizer. Keystone

Machten die gegen Libyen verhängten Visa-Restriktionen Sinn? Sollen Bundesräte zurücktreten? Täglich äussern sich Politiker und Fachleute zum Konflikt zwischen Libyen und der Schweiz. swissinfo.ch hörte sich auf dem Berner Uni-Campus bei Studierenden um.

Die Affäre Schweiz-Libyen geht in eine neue Runde, nachdem die Schweiz die Visa-Restriktionen für rund 180 libysche Bürger für den Schengenraum aufgehoben hat. Anstatt nun auch eine Geste guten Willens zu zeigen, hat Libyen die Haftbedingungen für die Schweizer Geisel Max Göldi verschärft.

“Meiner Meinung nach war es den Versuch wert, denn Diplomatie ist immer gescheiter als Konflikte”, sagt Melchior, ein zukünftiger Rechtswissenschafter.

Er könne jedoch nicht beurteilen, ob Micheline Calmy-Rey und das ihr unterstellte Aussenministerium in der Sache genügend getan hätten. “Denn Vieles was da läuft, bekommt man ja gar nicht mit.”

Politisch sei nicht alles richtig abgelaufen, meint ein anderer 26-jähriger Jurastudent. “Bundesrat Hans Rudolf Merz hätte ruhig ein wenig strenger sein können mit den Libyern.” Er spielte damit an auf die ergebnislose, in vielen Augen demütigende Libyen-Reise des damaligen Bundespräsidenten im letzten Jahr.

“Mit einem Diktator kann man nicht verhandeln”

Radikal und gradlinig meint eine Studentin des Berner World Trade Instituts: “Wenn man Gaddafi auf die Füsse tritt, passiert das halt. Das sollten alle wissen, die mit ihm Geschäfte machen. Mit einem Diktator kann man nicht verhandeln.”

Das “Söhnchen” eines Diktators dürfe man nicht einsperren, wenn es seine Bediensteten verprügle. “Aber ich bin stolz auf die Genfer, dass sie es gemacht haben.”

Auch der mit einer Schweizerin verheiratete Kubaner Manuel Tolon, der ein Masterstudium in europäischem Recht absolviert, ist der Ansicht, die Schweiz sei völlig korrekt vorgegangen.

“Gaddafis Sohn hat eine Straftat begangen, und die Schweiz hat einfach gehandelt.”

Angesprochen auf die von der Schweiz gegen hochrangige libysche Persönlichkeiten ausgestellten Visa-Restriktionen meint Tolon: “Die Schweiz ist ein souveränes Land und darf selbst bestimmen, wer reinkommen darf und wer nicht.”

Einseitige Vertragserfüllung

“Auf der einen Seite hat man einen Diktator, der macht, was er will und auf der anderen Seite die Schweiz, die immer politisch korrekt handeln möchte”, erklärt eine 26-jährige Gymnasiallehrerin, die sich an der Uni weiterbildet.

“Die Schweiz hat sich bis jetzt an den Vertrag gehalten, hat alles erfüllt und von Libyen ist gar nichts gekommen”, bemängelt sie weiter. “Im Gegenteil: Immer mehr Forderungen werden gestellt oder Homepages aufgeschaltet, wo ganz schlimme Vergleiche angestellt werden, etwa, dass sich die Schweiz verhalte wie Deutschland während des Holocausts. So kann man gar nicht diskutieren.”

Enttäuschung über die EU

Aus Voten einiger Studierender spricht aber auch Enttäuschung über die Rolle der Europäischen Union (EU), die der Schweiz abgerungen hat, die Visa-Restriktionen gegen Libyen aufzuheben, denn Max Göldi sitzt immer noch in einem libyschen Gefängnis.

“Ich bin sehr enttäuscht, gerade von Italien, das der Schweiz in den Rücken gefallen ist”, sagt die Gymnasiallehrerin.

Und Manuel Tolon bringt die Meinung vieler Kommilitonen auf den Punkt: “Das Problem ist, dass Europa auf das Erdöl angewiesen ist. Europa will Frieden mit Ländern wie Libyen, um ans Ziel zu kommen, sprich ans Erdöl.”

Keine Lösung ohne Vermittler

“Es stellt sich sowieso die Frage, ob Einreiseverbote in so einer verfahrenen Situation überhaupt zu Ergebnissen führen können”, sagt Christian Melischek, Doktorand in Wirtschaftsrecht aus Deutschland, der für ein paar Monate in der Schweiz forscht.

Mehr Erfolg sähe er in Vermittlerdiensten anderer nordafrikanischer Staaten oder Frankreichs: “Sarkozy hätte sich bestimmt gefreut. Er hätte wieder eimmal die Chance gehabt, sich auf der internationalen Plattform darzustellen. Das wäre ihm vielleicht angesichts der momentanen innenpolitischen Situation Frankreichs gerade recht gewesen.”

Ob eine Vermittlung des französischen Präsidenten denselben Effekt gehabt hätte wie bei der Befreiung der bulgarischen Krankenschwestern, bezweifelt Melischek jedoch.

Das sieht auch Andrea so, die sich an der Uni weiterbildet: “Die Schweiz hat bis anhin den grossen Fehler gemacht, aussenpolitische Beziehungen zu klein zu schreiben.”

Wenn die Schweiz im Rahmen der EU oder vielleicht auch auf der grossen Bühne mit den USA besser vernetzt wäre, hätte sie schneller Hilfe gefunden und damit auch eine diplomatische Lösung, ist die gebürtige Deutsche überzeugt.

“Die Schweiz ist kein Mitglied der EU. Folglich hat sie auch eine recht schwache Position, obwohl sie zum Schengenraum gehört. Gerade die Haltung, die Italien da an den Tag gelegt hat, zeigt, dass die Schweiz doch ein Stück abseits steht.”

“Aber wir müssen alle nach dem gesunden Menschenverstand handeln und uns nicht wegen Erdöl manipulieren lassen”, sagt Manuel Tolon. “Sonst sind die Menschenrechte verloren. Und wofür hat dann die Menschheit gekämpft?”

Etienne Strebel,swissinfo.ch

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) verlangt, dass Libyen die Haftbedingungen für den in Tripolis inhaftierten Schweizer Max Göldi verbessert.

AI zeigt sich besorgt über die Verlegung Göldis in eine fensterlose Zelle.

Max Göldi habe in der Zelle, in die er am Sonntagmorgen verlegt worden sei, keinen Zugang zu frischer Luft.

Zudem sei die Zelle feucht und habe einen unangenehmen Geruch.

Auch sei dem Schweizer am Montag der Hofgang verwehrt worden.

Hannibal Gaddafi hatte im vergangenen Dezember eine Ziviklage wegen Verletzung seines Persönlichkeitsschutzes eingereicht und 100’000 Franken Entschädigung gefordert.

Er klagte gegen den Kanton Genf, die Westschweizer Zeitung Tribune de Genève” sowie einen Journalisten der Zeitung wegen der Veröffentlichung seiner Polizeifotos am 4. September 2009.

Inzwischen hat sich der Kanton Genf für die Veröffentlichung der Fotos entschuldigt und Genugtuung angeboten.

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