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Wilder Westen in der Magadino-Ebene

Ein Hanf-Gewächshaus bei Giubiasco in der Tessiner Magadino-Ebene. Keystone

Im Tessin blüht das Geschäft mit dem Hanf. Nächste Woche wird entschieden, ob Hanfanbau und Cannabis-Verkauf stärker reglementiert werden.

Kritiker zweifeln an der Effizienz der Massnahmen und wollen die Revision des Eidgenössischen Betäubungsmittel-Gesetzes abwarten.

Neben dem Wallis gedeiht im Tessin landesweit der beste Hanf – das warme Klima lässt die THC-Werte in die Höhe schiessen. Vorab in der Magadino-Ebene, der einzig verbliebenen grösseren Landwirtschaftszone, haben mehrere Landwirte das lukrative Hanfgeschäft entdeckt.

Kein Wunder: Mit einem Quadratmeter Cannabis lassen sich bis zu 2000 Franken verdienen. Tomaten auf derselben Fläche bringen nur 20 Franken.

“Einige Landwirtschaftsbetriebe konnten so den Konkurs abwenden”, weiss der Kriminologe und Drogenexperte Michel Venturelli aus Bellinzona.

Kehrseiten

Doch der Hanfanbau hat seine Kehrseiten. Im vergangenen November wurde ein Betrieb überfallen, 300 Kilogramm Ernte geraubt. “Acht Männer haben mit Knüppeln bewaffnet drei meiner Angestellten auf dem Hof überwältig und an die Betten gefesselt”, gab der Besitzer zu Protokoll.

Die Hanf-Bauern ergriffen Gegenmassnahmen. Teilweise kontrollieren jetzt bewaffnete Wächter mit Hunden die Felder, um Diebe fern zu halten.

Besorgter Bauernverband

“In der Magadino-Ebene herrschen Zustände, die nichts mehr mit Landwirtschaft zu tun haben”, klagt Carlo Belossi, Präsident des Tessiner Bauernverbandes. Und der Verband der Gemüse- und Fruchtproduzenten (Foft) sorgt sich um das Image der Branche. Die Regierung wurde aufgefordert, dem Treiben nicht länger tatenlos zuzusehen.

Tatsächlich haben die Politiker reagiert. Nächste Woche (ab 24.Juni) wird der Grosse Rat ein neues kantonales Gesetz beraten, wonach der Hanfanbau im Tessin nach dem Vorbild der Kantone Thurgau und Graubünden einer Meldepflicht unterzogen wird.

Das Landwirtschaftsamt soll die Plantagen kontrollieren können und Bauern anzeigen, wenn der THC-Gehalt der Pflanzen über den gesetzlich erlaubten 0,3 Prozent liegt. Fehlbare Landwirte müssen mit saftigen Bussen rechnen. Strafen bis zu 100’000 Franken fordert die vorberatenden Kommission. Die Regierung hat 5000 Franken vorgeschlagen.

Kunden aus Italien

Das neue Gesetz regelt aber nicht nur den Hanfanbau, sondern auch den Cannabis-Verkauf. Rund 60 Hanfläden betreiben im Kanton ihr lukratives Geschäft – mehr als zur Versorgung der einheimischen Bevölkerung im Kanton mit seinen 300’000 Einwohnern nötig ist.

“Die Hanfshops haben 350 Arbeitsplätze geschaffen und den Tourismus angekurbelt,” freut sich Patrick Stoppa von der Hanfvereinigung Assocanapa. Die Ladenkonzentration ist vor allem in Grenznähe zwischen Mendrisio und Chiasso hoch. Dort profitieren die Geschäfte von den restriktiven Bestimmungen in Italien.

Scharenweise kommen Kunden aus dem Nachbarland, um sich mit Duftkissen einzudecken, deren Inhalt offiziell nicht zum Rauchen bestimmt ist. Praktisch täglich erwischen die Schweizer Grenzwacht und die italienische Guardia di Finanza Hanfpendler bei der Ausreise aus der Schweiz, obwohl der Export der Ware streng untersagt ist.

Hanfladen der Lombardei

“Das Tessin ist zum Hanfladen der Lombardei geworden”, meint Grenzwacht-Kommandant Fiorenzo Rossinelli. Die örtliche Bevölkerung klagt zudem über Ruhestörung. Immer mehr italienische Jugendliche konsumieren ihr “Gras” auf öffentlichen Plätzen in der Schweiz, um die Grenzkontrollen zu vermeiden. Einwohner von Chiasso und Umgebung forderten daher in einer Petition die Schliessung der “Canapai”, der Hanfläden.

Verbieten lassen sich die Hanfläden allerdings nicht. Und so kann der Grosse Rat im neuen kantonalen Gesetz auch nur beschränkt eingreifen.

Vorgesehen ist, den Verkauf von Hanfprodukten einer kantonalen Bewilligung zu unterziehen. Geranten erhalten eine fünfjährige Betriebserlaubnis nur, wenn sie einen ordentlichen Leumund haben und nicht wegen Drogendelikten verurteilt wurden. Verboten wird der Cannabis-Verkauf in der Nähe von Schulen, Sport- und Freizeitzentren. “Wir wollen das Phänomen eindämmen”, sagt der kantonale Justizdirektor Luigi Pedrazzini (CVP).

Unterschiedliche Einschätzungen

Ob diese Massnahmen allerdings den gewünschten Erfolg bringen, bleibt abzuwarten. Die SP hat starke Bedenken geäussert und hält generell ein Vorpreschen des Kantons vor der Revision des Eidgenössischen Betäubungsmittel-Gesetzes, das die Liberalisierung leichter Drogen anstrebt, für bedenklich.

Für Kommissions -Sprecherin Monica Duca Widmer (CVP) muss der Kanton hingegen handeln. Und zwar subito. Bis zur Revision des Betäubungsmittel-Gesetzes können ihrer Meinung nach noch Jahre vergehen, zumal mit einem Referendum zu rechnen ist.

Der Kriminologe Michel Venturelli dagegen hält das neue Gesetz für reine Kosmetik. Es biete nur einigen Politikern Gelegenheit, sich in Hinblick auf die Kantonswahlen 2003 in Szene zu setzen.

Unterdessen hat die Tessiner Nationalrätin Chiara Simoneschi Cortesi in einer Interpellation den Bundesrat Anfang Juni angefragt, ob er über das Ausmass der illegalen Cannabis-Exporte an der Südgrenze im Bilde sei und die Grenzkontrollen nicht verstärken wolle. Die Antwort steht noch aus.

Gerhard Lob, Bellinzona

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