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Andrea Caroni: “Die Initiative weist krasse Mängel auf”

Supreme Court Lausanne
illustration. Keystone/Gaëtan Bally

Das Schweizer Justiz-System sei zwar nicht perfekt, funktioniere aber sehr gut: Der FDP-Ständerat Andrea Caroni erklärt im Interview, warum er die Justiz-Initiative bekämpft. Und was deren Annahme für die höchste Gerichtsbarkeit im Land bedeuten würde.

Die Justiz-Initiative will die Wahl der Richter:innen ins Bundesgericht entpolitisieren: Die Parteien hätten heute einen zu grossen Einfluss auf den Prozess, was hinsichtlich der Gewaltentrennung problematisch sei.

Andrea Claudio Caroni ist Rechtsanwalt und Vize-Präsident der FDP Schweiz. Der Appenzeller Ständerat hat das Komitee gegen die Justiz-Initiative gegründet.

Andrea Caroni
Keystone

swissinfo.ch: Herr Caroni, die Initiant:innen sagen, bei der Nennung von Bundesrichter:innen habe die Schweiz ein ernsthaftes Problem mit der Gewaltentrennung. Was sagen Sie dazu?

Andrea Caroni: Das ist eine grundlose Übertreibung. Man muss wissen: Der Initiant (Adrian Gasser, Anm. d. Red.) hat als Unternehmer viele Prozesse geführt und war wohl unzufrieden mit deren Ausgang vor Bundesgericht. Meiner Meinung nach glaubt er, das System sei morsch, weil es halt oft gegen ihn entschieden hat.

Wie dem auch sei: Kein System ist perfekt, aber unseres funktioniert sehr gut. Wir haben ein demokratisch legitimiertes, sehr vielfältig zusammengestelltes Bundesgericht, das frei und unabhängig Urteile von hoher Quantität und ebensolcher Qualität fällt. Was will man noch mehr?

Sie selbst wollten zuerst einen Gegenvorschlag zur Justizinitiative erstellen. Trifft sie also doch einen wunden Punkt?

Es gibt natürlich immer Verbesserungsmöglichkeiten. Als Präsident der Gerichtskommission, die die Bundesrichter:innen nominiert, sage ich: Man kann bei den Prozessen punktuell optimieren. Beispielsweise könnte man bei besonders wichtigen Wahlen ein beratendes Gremium einbeziehen, so wie wir das für den neuen Bundesanwalt gemacht haben. Oder neue Instrumente einführen, um unsere Interviews mit den Anwärter:innen einheitlicher zu strukturieren.

Die Initiant:innen hingegen haben das Gefühl, die Richter:innen seien uns heute politisch ausgeliefert und wir können machen, was wir belieben. Das ist nicht so. Das sieht man schon daran, dass wir stets alle zur Wiederwahl empfehlen, solange sie keine massive Amtsverletzung begangen haben, was so gut wie nie vorkommt. Wir haben uns deshalb überlegt, ob wir diese Praxis noch klarer formalisieren wollten, zum Beispiel mittels automatischer Wiederwahl, solange es keinen Antrag dagegen gäbe. Das wäre eine mögliche Feinjustierung des Systems gewesen.

Letztlich haben wir uns gegen einen Gegenvorschlag entschieden: Wo es keine wirklichen Probleme gibt, muss man auch nicht eingreifen. Wir haben seit 1874 ein ständiges Bundesgericht. Seither gab es nur in drei Fällen keine Wiederwahl: Zwei Mal, weil sich Richter nicht an die damalige informelle – und heute gesetzliche – Alterslimiten halten wollten. Das dritte Mal war ein Betriebsunfall, und der Richter wurde eine Woche später doch wiedergewählt. Das zeigt, wie unglaublich resilient das System gegen politische Spielchen ist.

Kritik kommt auch aus dem Ausland, unter anderem von der Staatengruppe gegen Korruption des Europarats Greco. Die Schweizer Justiz sei zu politisiert. Was halten Sie von diesem Urteil?

Ich habe Mühe mit Greco, denn meiner Meinung nach verstehen sie die Schweiz nicht wirklich. Wir sind politisch komplett anders aufgebaut als fast alle anderen Länder. Die meisten Mitgliedstaaten von Greco kennen unsere Konsensualdemokratie, in der alle Kräfte bis hin zum Bundesrat eingebunden werden, nicht.

Diese Art der Einbindung machen wir auch bei den Gerichten. Als Abbild der direkten und halbdirekten Demokratie werden möglichst alle Meinungen eingebunden, und durch diese Vielfalt entstehen ausgeglichene Spruchkörper, deren Urteile auch von der Bevölkerung breit akzeptiert werden.

Übrigens fühlen sich die Richter:innen nicht gegängelt, sondern im Gegenteil gestärkt durch das bestehende System, denn so erhalten sie eine indirekte Volkslegitimation via Parlament. Für sie ist das eine Rückendeckung, das wird mir im persönlichen Gespräch immer wieder bestätigt. Und von Druck aus ihren Parteien ist ohnehin nie die Rede, da wird zu viel hinein fantasiert.

Der Parteienproporz bei der Richterwahl diene der Abbildung des gesamten politischen Spektrums, heisst es. In der Schweiz sind aber nur rund 7% der Bevölkerung überhaupt in einer Partei vertreten. Ist das nicht problematisch?

Dieses Argument ist eine Nebelpetarde. Es geht ja nicht darum, Parteimitgliedschaften abzubilden, sondern Werthaltungen. Parteien sind letztlich nur ein Mittel, um diese zu erfassen. Wir beleuchten im Auswahlverfahren auch eine Reihe weiterer Merkmale: Alter, Geschlecht, Region, beruflicher Hintergrund. Und natürlich auch Sprache, was übrigens der einzige Punkt ist, an den die Initiant:innen selber auch gedacht haben.

Zudem: Man muss nicht Parteimitglied sein. Es reicht, wenn jemand seine parteipolitische Affinität deklariert, damit wir ihn im politischen Spektrum ungefähr einordnen können. In unserer politischen Landschaft findet sich für praktisch jede Ansicht eine Partei. Und wenn nicht, würde wohl schnell eine neue Partei gegründet.

Die Initiative fordert auch eine vom Bundesrat eigesetzte ständige Fachkommission, die die Richter:innen zur Wahl vorschlägt. Wäre das nicht eine annehmbare Änderung?

Es geht ja jetzt nicht darum, ob das heutige System perfekt ist oder nicht. Sondern ob die vorliegende Initiative dieses verbessert oder nicht. Und genau bei der Fachkommission sieht man, dass sie krasse Mängel aufweist. Für die Initiant:innen sind wir in der Gerichtskommission allesamt korruptionsanfällig und betreiben Postenschacher. Der Bundesrat soll dann aber in Eigenregie ein über alle Zweifel erhabenes Gremium aus dem Hut zaubern: Wie soll dieses zusammengesetzt werden? Wer soll da anhand welcher Kriterien Einsitz kriegen? Dazu sagt die Initiative nichts, das ist eine völlige Black Box.

In der Gerichtskommission sitzen 17 Parlamentarier:innen, von ganz links bis ganz rechts, das ist ein guter politischer Querschnitt. Wir schauen uns alle gegenseitig auf die Finger und arbeiten transparent – ganz anders als es eine solche Fachkommission ohne demokratische Legitimierung und mit einer zu grossen Machtfülle tun würde. Letztlich offenbaren die Initiant:innen ein sehr technokratisches Staatsverständnis: Das Los geht über eine Maschine, die Fachkommission besteht nur aus “Experten”, und einzig die Exekutive soll sie berufen können. Das ist elitär und passt nicht zu unseren demokratischen, volksnahen Institutionen.

Ihr Parteikollege Beat Walti hat eine parlamentarische InitiativeExterner Link eingereicht, die die umstrittene Mandatssteuern abschaffen will. Begrüssen Sie den Vorstoss?

Die Mandatssteuer wird massiv überschätzt und völlig zu Unrecht als Ämterkauf dargestellt. Die Beiträge sind fix und können weder von den Richter:innen erhöht werden – um beispielweise auf einen Posten zu “bieten” – noch kann man umgekehrt als Partei Urteile kaufen. Das ist weder Korruption noch Ämterkauf, sondern schlicht ein Beitrag an die Organisationen, die das politische Leben in diesem Land – weitestgehend in Freiwiligenarbeit – mitorganisieren.

Es steht übrigens allen Parteien offen, ob sie das überhaupt machen wollen. Es gibt kein Gesetz dafür. Bei uns in der FDP machen diese Beiträge einen vernachlässigbaren Teil im Budget aus, wir haben den tiefsten Ansatz, diese paar Franken spürt doch ein Bundesrichter mit Jahreseinkommen von 365’000 Franken nicht. Aber um den Kritiker:innen den Wind aus den Segeln zu nehmen und das Thema zu beenden, haben wir als FDP beschlossen diesen Vorstoss einzubringen.

Vorgesehen ist auch ein Losverfahren, das entscheiden soll, wer unter den vorgeschlagenen Richter:innen die Stelle kriegt.

Ich finde das sehr problematisch. Für die Richter:innen ist doch das total demotivierend. Da haben sie vielleicht eine Glanzkarriere hinter sich und werden nicht gewählt, weil das Los jemand anders auswählt, der offensichtlich weniger gut qualifiziert ist. Anstatt die Besten auszuwählen, überlassen wir das so dem Zufall, der vermeintlich bessere Urteile fällt als die politisch Verantwortlichen. Zudem garantiert niemand mehr die Vielfalt an den Gerichten, und ein paar Experten in der Fachkommission hätten alle Macht.

An der Initiative gibt es übrigens noch einen letzten heiklen Punkt, einen etwas Technischen.

Welcher ist das?

Die Initiative richtet sich nur an das Wahlprozedere für das Bundesgericht. Da ging glatt vergessen, dass damit alle anderen Gerichte im Land im bisherigen System mit Parteienproporz blieben. Wenn also das Anliegen durchkäme, hätten wir das Losverfahren nur für die 38 Bundesrichter:innen, die aber vorher dank ihren früheren Gerichtskarrieren doch alle parteibezogen wären.

Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wir haben ein solides Haus, das sich seit knapp 150 Jahren bewährt hat. Wir könnten vielleicht da und dort etwas neu streichen, aber generell sanierungsbedürftig ist es nicht. Die Initiative hingegen will es komplett niederreissen und dann nur ein Dach hinstellen, das zudem noch schräg ist.

Karin Stadelmann setzt sich für die Justiz-Initiative ein. Im Interview erklärt sie warum:

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