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Kampf gegen die Mafia: Die Schweiz braucht einen Paradigmenwechsel

Rosa Maria Cappa

Die internationale Gemeinschaft hat die Gefahr und den Schaden verstanden, die von der Unterwanderung der Gesellschaft durch die Mafia ausgehen. 190 Staaten, darunter die Schweiz, haben die UN-Konvention von Palermo aus dem Jahr 2000 gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität unterzeichnet beziehungsweise ratifiziert. Seither haben die Unterzeichnerstaaten immer nachdrücklichere und einschneidendere Massnahmen zur Bekämpfung der Mafia ergriffen. Gleichwohl sind weitere Schritte nötig, sowohl auf Gesetzesebene, als auch bei den strafrechtlichen Ermittlungen.

Italien hat schrittweise immer griffigere Anti-Mafia-Normen verabschiedet und 2011 ein Antimafia-Gesetz verabschiedet (Gesetzesdekret Nr. 159/2011Externer Link). Dieses sieht vor, dass Justizbehörden präventiv gegen verdächtige Personen vorgehen können (beispielsweise mit speziellen Überwachungsmassnahmen).

Auch Institutionen zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit können solche Entscheide autonom treffen (beispielsweise einen lokalen Wegweisungsbefehl). Möglich sind auch präventive Massnahmen in Vermögensfragen (beispielsweise die Beschlagnahmung, Einziehung oder staatliche Zwangsverwaltung von Vermögen oder Unternehmen der Mafia). Schliesslich gibt es die Möglichkeit, beschlagnahmte Vermögenswerte für gemeinnützige Zwecke einzusetzen.  

Das Besondere an diesen Massnahmen ist die Tatsache, dass sie allein angesichts der blossen Gefährlichkeit einer Person ergriffen werden können, unabhängig von der Begehung einer Straftat und unabhängig von der Eröffnung eines Strafverfahrens.

Am 9. November 2021 hat das italienische Berufungsgericht von Reggio Calabria alle neun Angeklagten freigesprochen. Sie waren beschuldigt gewesen, Teil einer im schweizerischen Frauenfeld (Kanton Thurgau) operierenden ‘Ndrangheta-Zelle gewesen zu sein.

In erster Instanz hatte das Gericht von Locri sie zu Haftstrafen zwischen 10 und 13 Jahren verurteilt. Doch das Kassationsgericht hat sie nun freigesprochen. Der Tatbestand sei nicht erfüllt gewesen, so die Begründung der Freisprüche.

Für die Anwendung von Massnahmen im Vermögensbereich ist es notwendig, dass es ein Missverhältnis zwischen den deklarierten Vermögenswerten einer Person und deren effektivem Lebensstil besteht.

In der Schweiz scheiterten im Parlament alle Versuche, den wenig griffigen Artikel 72 des StrafgesetzbuchesExterner Link zu revidieren. Dieser Artikel sieht lediglich die Einziehung von Vermögenswerten vor, welche der Verfügungsmacht einer kriminellen Organisation unterliegen. Bei Vermögenswerten einer Person, die sich an einer kriminellen Organisation beteiligt, wird die Verfügungsmacht der Organisation bis zum Beweis des Gegenteils vermutet.

Die Ablehnung einer jeglichen Verschärfung der Normen erfolgte im Namen einer angeblich nicht gegebenen Notwendigkeit sowie “im Interesse unseres Finanzplatzes” (Stellungnahme des Bundesrats vom 19.11.2014 zur Motion 14.3846Externer Link).

Und doch ist die organisierte Kriminalität, vor allem italienischer Prägung, in der Schweiz tief verwurzelt, wenn auch kaum sichtbar. Dies beweisen die zahlreichen Verhaftungen in den letzten Jahrzehnten, die auf Ersuchen der italienischen Anti-Mafia-Behörden erfolgt sind.

Die letzten beiden Verhaftungen gab es am 15. Juni 2021 im Kanton Aargau sowie im Kanton Tessin auf Gesuch der Anti-Mafia-Direktion von CatanzaroExterner Link (Kalabrien) im Rahmen der Operation gegen die Anello-Fruci-Mafiabanden. Keineswegs zufällig erachtete das Bundesamt für Polizei (fedpol) die kalabrische ‘ndrangheta als eine Bedrohung für die Schweizer Gesellschaft (siehe Jahresbericht fedpol 2014Externer Link)

Der Schweizerische Ansatz zur Anti-Mafia-Bekämpfung erscheint auch unter dem Profil kriminalistischer Erwägungen als unzureichend. Es liegt auf der Hand, dass die zuständige Behörde zur Eindämmung der Mafia auf dem Territorium präsent sein muss, auf dem die Mafia traditionell agiert (gemäss dem Bundesamt für Polizei handelt es sich um die Grenzkantone mit Italien und Deutschland). Doch die Abteilung für organisierte Kriminalität der Bundesanwaltschaft hat ihren Sitz seit Jahrzehnten in Bern.

Unangemessen erscheint aber vor allem der helvetische Ermittlungsansatz im Kampf gegen die Mafia. Seit den Zeiten von Mafia-Jäger Giovanni Falcone haben die Schweizer Justizbehörden stets Rechtshilfeersuchen aus Italien bearbeitet beziehungsweise ausgeführt, sind aber praktisch nie von selbst aktiv geworden oder haben eigene Verfahren eröffnet.

Wer aber das Mafia-Phänomen kennt, weiss, dass Mafiosi keine Einzelgänger sind, sondern in Familienverbänden auswandern, sich bevorzugt in kleinen Gemeinden niederlassen, sich mit unauffälligen Jobs im sozialen Gefüge einer Gesellschaft tarnen, enge Beziehungen zu Menschen pflegen, mit denen sie Traditionen und Bräuche teilen, und sich in Emigrantenvereinen engagieren.

Die Überzeugung, wonach es ausreicht, Rechtshilfegesuchen der italienischen Anti-Mafia-Behörden nachzukommen, Mafiosi zu verhaften und auszuliefern, ist nicht tauglich, um die gegebenen Herausforderungen zu bewältigen.

Im Falle der Verhaftung von neun Mafiosi aus der Gemeinde Frauenfeld im Jahr 2014, die von der Bundeskriminalpolizei bei einem Initiationsritus der ‘ndrangheta gefilmt wurden, beschränkten sich die Schweizer Behörden darauf, den Video an die Anti-Mafia-Einheit von Reggio Calabria zu übermitteln und die Verhafteten auszuliefern.

Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass es in der Schweiz eine eigene Strafuntersuchung gegeben hätte, obwohl die lokale Mafia-Organisation mindestens 18 Mitglieder aufwies und seit mehr als 40 Jahren auf unserem Territorium tätig war.

Ganz wichtig: Für jedes nach Italien ausgelieferte Mafia-Mitglied verbleiben vier oder fünf in der Schweiz, wo sie ihre rechtswidrigen Aktivitäten fortsetzen. Der Anti-Mafia-Staatsanwalt des Bezirks Reggio Calabria, Nicola Gratteri, hatte damals erklärt, dass neben der Zelle von Frauenfeld mindestens weitere 20 Zellen der ‘ndrangheta in der Schweiz ausgemacht worden seien.

Die Überzeugung, wonach es ausreicht, Rechtshilfegesuchen der italienischen Anti-Mafia-Behörden nachzukommen, Mafiosi zu verhaften und auszuliefern, ist nicht tauglich, um die gegebenen Herausforderungen zu bewältigen.  Es braucht einen Paradigmenwechsel. Die Schweiz muss eigenständige Ermittlungen einleiten, und nötigenfalls Informationen mit den italienischen Behörden austauschen.

Auch im Bereich der Ermittlungen und Verfahren ist ein Kurswechsel nötig, weil wir uns nicht damit abfinden dürfen, dass die Beweislage von den italienischen Untersuchungen abhängt. Die Tatsache, dass Mafiosi in der Schweiz leben, bedeutet, dass sie auf unserem Territorium operieren (und auch straffällig werden). Deshalb müssen wir in der Lage sein, vor Ort Beweise zu sammeln und Verurteilungen zu erreichen.

Von Italien lässt sich lernen, dass es bei Anti-Mafia-Ermittlungen nötig ist, von einer Datenanalyse und der Beobachtung einzelner Geschäftszweige auszugehen, in denen sich mafiöse Aktivitäten entwickeln. In der Schweiz betrifft dies vor allem das Baugewerbe, die Gastronomie, den privaten Transportbereich sowie den An- und Verkauf von Automobilen.

Zu diesem Zweck ist es unerlässlich, Daten aus öffentlichen zugänglichen Quellen zu untersuchen, die Spuren von mafiösen Tätigkeiten enthalten können. Dies kann durch Informationen geschehen, die den Behörden vorliegen, etwa vom Einwohnermeldeamt, dem Handelsregister, dem Grundbuchamt, dem Vollstreckungs- und Konkursamt und den Steuerverwaltungen.

Die Daten sollten abgeglichen werden in Bezug auf Personen, die mutmasslich mit der Mafia in Verbindung stehen. Auch durch die Beobachtung ihrer Aktivitäten, dem jeweiligen Lebensstandard und ihren persönlichen Beziehungen können wichtige Informationen gewonnen werden, um Ermittlungen einzuleiten, die zu einem Gerichtsverfahren führen können.

Ebenso ist es von grundlegender Bedeutung, dass sich die polizeiliche Ermittlungs- und Kontrolltätigkeit auf Aktivitäten konzentriert, welche Indizien für mutmassliche Aktivitäten mafiöser Organisationen darstellen, etwa Unregelmässigkeiten bei der Vergabe öffentlichen Ausschreibungen, Konkursdelikte oder Verstösse gegen die Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer und der sozialen Sicherheit.

Ebenfalls überwacht werden müssen die Finanzierungsmodelle von Unternehmen. Denn Unternehmer:innen, die keine Bankkredite erhalten, werden schnell zur Beute von Leuten, die keine Garantien, dafür aber hohe Zinsen verlangen.

Die nächste Stufe der Ermittlungen besteht darin, diese Straftaten mit dem Vorhandensein einer kriminellen Mafia-Organisation in Verbindung zu bringen, indem eine gewisse Hartnäckigkeit bei der Überwachung von Personen an den Tag gelegt wird, die verdächtigt werden, dieser Organisation anzugehören.

Schliesslich sind in der Schweiz eine kontinuierliche Information und Sensibilisierung nötig, um eine Bewusstseinsbildung in Bezug auf Legalität zu erreichen. Das betrifft keineswegs nur die Bevölkerung im Allgemeinen, sondern auch die Institutionen und ihrer Mitarbeiter:innen, welche – im Sinne einer politisch korrekten Kommunikation – das Ausmass des Phänomens manchmal herunterspielen und damit unbewusst zu seiner Ausbreitung beitragen.

Es muss klar sein, dass es bei der Mafia in der Schweiz nicht mehr nur um Bankgeschäfte sowie Drogen- und Waffenhandel geht, sondern inzwischen auch um kommerzielle und unternehmerische Aktivitäten und konkrete Investitionen. Gemeinsam mit dem Mafiageld wird so auch die Mafia-Methode importiert, eine Methode, die mittelfristig die Wirtschaft und auch die Werte eines sicheren Gemeinwesens wie der Schweiz aushöhlen kann.

Gerhard Lob

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