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Der Klang der Heimat

Boden Bundeshaus
Aus der Erde auf der Südseite des Bundeshauses dringen feine Knabbergeräusche, weit feiner als das Gepoltere im Nationalratssaal. Foto Fotografin

Wer sehr genau hinhört, stellt fest: Im Boden spielt ein von uns überhörtes, vielstimmiges Orchester. Grabesstille herrscht unter Tag nicht. Und wenn doch, ist das besorgniserregend. Wissenschafter versuchen jetzt, diese unterirdische Klangwelt besser zu verstehen.

Am Anfang unserer kleinen Entdeckungsreise steht eine simple These: Heimat ist dort, wo man verwurzelt ist. Nun wollen wir aber genau hinhören, wie es im Wurzelwerk – in der heimatlichen Scholle – tatsächlich klingt.

Nach dem “Klang der Heimat” fahnden wir zuerst in einem Schrebergarten in einem bernischen Vorort. Mit dabei: Ein guter Kopfhörer, ein hypersensibles Mikrofon, ein Gerät zur Aufnahme unterirdischer Geräusche. Und viel Neugier.

Fast ein Gehörschaden

Was ist zu hören? Zunächst gar nichts. Dann ein Donnern und Knallen, dass das Trommelfell schmerzt. Die Ursache: Ein Grashalm streift im leichten Wind das empfindliche Mikrophon und die Elektronik verstärkt diesen Hauch einer Berührung zu einem Fortissimo.

Die Aufnahmetechnik ist in der Tat ausgesprochen sensibel. Der zweite Versuch verläuft besser. Im feuchten Erdreich unter den mächtigen Kürbisblättern registriert das Gerät feinste Geräusche: ein leises Rumpeln, ein Knarzen.

Offensichtlich tut sich da im Boden etwas. Mit jeder Etappe der Hinterhofexpedition wird klarer, wie überraschend reich und schwer beschreibbar die unterirdische Klangwelt ist. Hunde bellen, Pferde wiehern, Grillen zirpen, Kühe muhen.

Aber was tut das für uns unsichtbare winzige Getier in der kompostreichen Erde, in die wir jetzt gerade horchen? Es fehlt schier das Vokabular: Es knarrt und knarzt, es nibbelt und fiept, es rumpelt und ruckelt, es knallt und knattert. Und ist da gar ein Schmatzen, ein Gurgeln?

Aufbruch zu den grossen Themen! Wie klingt zum Beispiel der “Röstigraben”, diese imaginäre und vieldiskutierte kulturelle Grenze zwischen der deutschen und der welschen Schweiz? Im bernisch-freiburgischen Grenzgebiet stecken wir das Mikrofon – völlig themengerecht – sorgfältig in einen Kartoffelacker. Und wir hören: so gut wie nichts. Keine Diskussion, kein Konflikt? Oder ist am Ende in dieser Ackererde kein Leben?

Patriotischer Boden

Wie klingt die wichtigste Wiese der Schweiz, das Rütli? Trommelnder Dauerregen verhindert diese Messungen. Als Alternative muss der patriotische Boden herhalten, auf dem das Bundeshaus steht.

Vor der südlichen Bundeshausfassade ist es üppig grün. Aus der feuchten Erde rund um die Parkbäume dringen die inzwischen vertrauten feinen Geräusche. Sie sind weit feiner als das Gepoltere, das im Bundeshaus jeweils die Debatten begleitet.

Boden Bundeshaus
Geräuschvielfalt und Geräuschintensität: Autor Marc Lettau hört in den Böden. swissinfo.ch

Es mangelt heutzutage nicht an Leuten, die merkwürdige Dinge tun. Vor dem Bundeshaus spricht die Passantin das “Schweizer Revue”-Expeditionsteam deshalb mit freundlicher Nachsicht an: “Was tun Sie da?” Die Antwort: Wir sind mitten im Lauschangriff auf die Würmer rund ums Bundeshaus. Erst als die Dame sich den Kopfhörer selbst aufsetzt, weicht ihre Skepsis: “Das ist ja der Wahnsinn! Das sollten alle einmal hören. Das lebt ja!”

Orchester unter Tag

Zum Schluss der Entdeckungsreise eine Feuchtwiese in den Voralpen, unweit eines Waldrands. Das filigrane Mikrofon ist erneut ins Erdreich eingelassen, der Kopfhörer aufgesetzt – und verflogen ist die vermeintliche Stille der Berge.

Gänzlich eingetaucht in eine bislang überhörte Klangwelt verschiebt sich Wahrnehmung: Erst meinten wir, es sei still – doch jetzt hören wir unter Tag das vielstimmige Orchester.

Boden Bundeshaus
Winzige Springschwänze (Collembola) krabbeln hier gerade durch den Kompost. Sie gehören zum unterirdischen Orchester, in dem auch Milben, Fliegenlarven, Asseln, Regenwürmer, Spinnen, Hundertfüssler, Käfer, Heuschrecken und Zikaden mitspielen. / Marie Louise Huskens

Seit Sommer 2019 sind in der Schweiz im Sommerhalbjahr Frauen und Männer auf diese Weise unterwegs und belauschen technisch gut ausgerüstet den Boden.

Sie alle sind Teil des Forschungsprojekts “Sounding Soils” (siehe unten), an dem sich nebst Wissenschaftlern eben auch Laienforscherinnen und -forscher beteiligen. Dank diesem Citizen-Science-Ansatz fliessen letztlich zusätzliche Messdaten in die wissenschaftliche Forschung ein.

Die Biologin hilft weiter

Hinter allen registrierten Geräuschen stehen kleine und kleinste Lebewesen, beispielsweise Milben, Fliegenlarven, Asseln, Regenwürmer, Spinnen, Hundertfüssler, Springschwänze, Käfer. Aber welches klingt wie?

Biologin Sabine Lerch ist bei der Stiftung “Biovision” fürs Projekt “Sounding Soil” zuständig, kann aber die genaue Antwort auch nicht liefern: “Wir wissen es nicht. Wir sind weltweit die Ersten, die Bodengeräusche auf diese Weise hörbar machen. Aber die Forschung steht noch am Anfang.”

Fürs Erste nehme sich die Forschung dem Grundsätzlichen an: “Je reicher die Geräuschkulisse, desto mehr verschiedene Tierguppen sind vorhanden; je intensiver die Geräusche, desto aktiver ist die Meso- und Mikrofauna.”

Geräuschvielfalt und Geräuschintensität: “Diese beiden Faktoren sagen etwas aus über das Vorhandensein und die Aktivität der Bodentiere”, sagt Sabine Lerch. Bis Ende 2021 soll die Forschung zeigen, ob die beiden Faktoren eine Messmethode sein könnten, um den Zustand eines Bodens zu beurteilen.

Wenn ja, wäre das ein Durchbruch für die neue wissenschaftliche Disziplin, die hier gerade an Profil gewinnt: die Ökoakustik. Einer ihrer prominenten Wegbereiter ist der Schweizer Forscher Marcus Maeder. Ökoakustik könnte dereinst zum Werkzeug fürs Messen und Beurteilen von Biodiversität werden.

Böden unter Druck

Maeder ist ursprünglich Musikwissenschaftler und er sagt: “Der Acker mit biologisch angebautem Hafer klingt voller als der konventionelle Kartoffelacker.” Die Klangwelt unter Tag beurteilt er gleichwohl nicht nach primär künstlerischen Kriterien: Das zentrale Thema ist die Gesundheit des Bodens.

Der Zustand der Schweizer Böden sei vielerorts schlecht, sagt Sabine Lerch: “Unser Boden ist in vielfacher Hinsicht unter Druck. Er wird zugebaut, versiegelt und andererseits auch sehr intensiv genutzt und mit immer schwereren Maschinen bearbeitet.” Zudem belaste der Eintrag chemischer Schadstoffe – zum Beispiel Pestizide und Düngemittel – ihn zusätzlich.

Bodengeräusche in Trub im Berner Emmental.

Paysage de montagne

Bodengeräusche in Gais im Appenzell.

Paysage de montagne


Gleichzeitig stellt die Biologin fest: “In der Öffentlichkeit und in der Politik steht die Frage, was mit dem Boden passiert, kaum je im Mittelpunkt.” Viele sähen den Boden einfach als “Oberfläche”.

Selbst Naturschützerinnen und Naturschützer betrachteten mit Vorliebe die oberirdische Biodiversität, nicht die unterirdische: “Das ist auch verständlich. Wir sind auf das fokussiert, was wir sehen, was ganz unmittelbar unsere Emotionen weckt.”

Dem Boden eine Stimme geben

Nebst einem Forschungsprojekt ist “Sounding Soil” deshalb auch erklärtermassen ein Versuch zur Sensibilisierung: “Wir wollen dem Boden eine Stimme geben”, sagt Lerch. Denn was sich im Boden unter uns abspiele, betreffe schliesslich alle: “Ich denke da etwa an die Rolle des Bodens für den Wasserhaushalt oder die Nahrungsmittelproduktion.”

Im besten Fall wird das Belauschen von Böden nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis liefern, sondern zu einer neuen Wahrnehmung des Bodens, auf dem und von dem wir leben, beitragen. Und im betrüblichsten Fall nehmen die von Marcus Maeder entwickelten Mikrofone einfach die Tonspur des Klimawandels und vom Verlust der Biodiversität auf.

«Sounding Soil» ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, in dem Bodengeräusche die Hauptrolle spielen. Stark vereinfacht gesagt untersucht das noch bis 2021 laufende Projekt, wie und warum unterschiedlich genutzte Böden unterschiedlich tönen. Die bisherige Erkenntnis: Böden klingen umso komplexer, je grösser die Vielfalt an Lebewesen ist, die in ihnen leben. 

«Sounding Soil» ist ein Projekt, das die folgenden sieben Institutionen gemeinsam tragen: Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Biovision – Stiftung für ökologische Entwicklung, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), Nationale Bodenbeobachtung (NABO), ETH Zürich (Institut für Terrestrische Ökosysteme) und das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL).

Dieser Artikel erschien in der Schweizer RevueExterner Link.

Vertiefende Informationen: www.soundingsoil.chExterner Link
Aufnahmen von Bodengeräuschen: www.soundingsoil.ch/zuhoeren/Externer Link


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