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“Ein bemerkenswertes und abenteuerliches Leben”

Alexandre Émile Jean Yersin, in der Schweiz kaum bekannt, wird am Sockel der alten "Académie de Lausanne" mit einer Gedenktafel geehrt. gemeinfrei

Er erweiterte die Grenzen seines Landes: Der Schweizer Mediziner und Wissenschaftler Alexandre Yersin (1863-1943) war Mitglied der ersten Forschergruppe um Louis Pasteur. Der französische Schriftsteller Patrick Deville widmet diesem Weitgereisten ein Buch.

Seine Hinterlassenschaft besteht lediglich aus zwei lateinischen Wörtern: Yersinia pestis; zwei Wörter, die nur ein paar wenige Eingeweihte heute noch kennen.

Normalsterbliche wissen so gut wie nichts über Alexandre Yersin, den Forscher, Ethnologen, Seefahrer, Landwirt, Geographen, Arzt und Schweizer Wissenschaftler, der 1894 in Hongkong das Pestbazillus entdeckte.

Nach der Entdeckung wurde das Bazillus daher Yersinia genannt. Während andere ihren Namen an ihre Söhne weitergeben, gab Alexandre den seinen an die Wissenschaft.

Der Forscher mit unbändiger Neugier, gesegnet mit einer aussergewöhnlichen Intelligenz, war ein eingefleischter Einzelgänger. Er war nie verheiratet und hatte keine Kinder.

Seine Familie war jene um den Wissenschaftler Louis Pasteur, zumindest zu Beginn seiner beruflichen Karriere. Er hatte Ende der 1880er-Jahre in Paris sein Medizinstudium abgeschlossen und war in das Labor des berühmten französischen Forschers eingetreten. So stiess er zur Gruppe der jungen Pasteurianer, der ersten Forschungsgruppe, die dieser zusammengestellt hatte.

Der letzte Pasteurianer

Unter dem Namen Pest & Cholera hat der französische Schriftsteller Patrick Deville dem Schweizer Alexandre Yersin nun einen biografischen Roman gewidmet.

Doch warum hat der Franzose ausgerechnet einen Schweizer aus der Gruppe der Pasteurianer ausgewählt, der doch zahlreiche Franzosen angehört hatten? “Weil er der letzte Überlebende dieser Bande und sein Leben alles andere als langweilig war. Führten die anderen Pasteurianer ein bewegtes Leben, erscheint seines besonders bemerkenswert und abenteuerlich”, sagt Deville gegenüber swissinfo.ch.

“Sein Lebensweg hat es mir erlaubt, 80 Jahre der französischen und europäischen Geschichte aufzugreifen. Yersin kam 1863 im Kanton Waadt zur Welt. Frankreich gehörte damals zum Zweiten Kaiserreich. Er ist 1943 in Nha Trang in Indochina (heute Vietnam) gestorben. Dieses stand damals unter japanischer Besatzung.”

Zwischen diesen beiden Daten unternimmt Yersin Entdeckungen und Reisen um den halben Planeten, ein Mann, der “pragmatisch und experimentell denkt”. Bereits als Bub beginnt er mit der Konstruktion von Flugdrachen, bevor er zum “Staatsbauer” wird, wie es Deville formuliert.

Denn die Masslosigkeit zieht Yersin magisch an. Im Labor von Pasteur erstickt er fast. Sein Chef bemerkt die Unterforderung und nutzt die zahlreichen Fähigkeiten dieses Schweizers, der in seinen Leidenschaften ebenso unbeständig erscheint wie in seiner Forschung.

Asien klebt an seiner Haut

Pasteur empfiehlt ihn daher den “Messageries Maritimes” in Bordeaux. Der junge Waadtländer, damals bereits im Besitz der französischen Staatsbürgerschaft, dank der er in Frankreich als Arzt arbeiten kann, wird also zum Schiffsarzt auf der Linie Saigon-Haiphong im Meer vor dem heutigen Vietnam.

Asien wird ihn nicht mehr loslassen. Er will mehr wissen. Er verlässt die Schifffahrt, um Indochina zu erforschen. Es ist jener Ort, an dem er sich, viel später, niederlassen und seine kleine Schweiz aufbauen wird.

Doch zuvor wird er die Pest in Hongkong besiegen. Dort ist diese Krankheit eine grosse Plage. Die bedeutende Kolonialmacht Frankreich will ihren Ruf verbessern und schickt Yersin, den Zögling von Louis Pasteur.

Yersin steht zu dieser Zeit an der Spitze der medizinischen Forschung. Besonders seine Konkurrenz mit einem anderen Spitzenforscher, dem Deutschen Robert Koch, stachelt ihn zusätzlich an.

Frankreich will unbedingt schneller sein als Deutschland, wie es sich auch vor der anderen kolonialen Grossmacht jener Epoche, Grossbritannien, positionieren will. Doch es wird ein Schweizer sein, der das Pestbazillus isoliert und seinen wissenschaftlichen Sieg an Frankreich abtritt.

Doch wer weiss heute noch, dass Alexandre Yersin ein Schweizer war? Die Pest soll sie holen, diese Ungerechtigkeit! Patrick Deville antwortet auf diese Bemerkung: “Die Geschichte produziert Ungerechtigkeiten, das stimmt. Doch damals hatte die Schweiz kein Zentrum für bakterielle Forschung. Um Karriere machen zu können, mussten Forscher deshalb nach Frankreich, Deutschland oder Grossbritannien. Man darf auch nicht vergessen, dass die Schweiz, die keine Kolonialmacht war, zwangsläufig nicht den grossen historischen Winden ausgesetzt war.”

Neutral wie die Schweiz

Seine Identität hat Yersin anderswo ausgespielt. Wie ein guter Schweizer flieht er vor den Ehren. Mehr noch, er hält sich aus der Politik heraus, die er laut Deville als “Schmutz” bezeichnet. Und der Autor ergänzt: “Er wollte nie eine Rolle in der Geschichte spielen.” Zwischen den beiden Weltkriegen hat sich Yersin in Europa abgemeldet und in Asien seine Zelte aufgeschlagen.

Er isoliert sich zusehends, zieht die Neutralität vor. In sich trägt er das Schicksal der Schweiz. Neben seiner grossen Liebe, der Arbeit, interessiert ihn das komfortable Leben, das eine aussergewöhnliche Landschaft bieten kann. Es ist das, was ihm sein Geburtsland geboten hatte, als er als Kind mit seiner Mutter Fanny in Morges am Genfersee lebte.

Ein Stück dieser Schweiz pflanzt Yersin in Hon Ba an, einem grünen Hügel im Herzen Indochinas. Hier lässt er sich ein Schweizer Chalet bauen. Darum herum baut er Früchte und Gemüse aus seiner Heimat an. Er ist jetzt bereits ein alter Mann. Von Zeit zu Zeit steigt er hinunter nach Nha Trang am chinesischen Meer, wo er ein weiteres Haus besitzt.

Am selben Ort hatte er als junger Mann das Pasteur-Institut gegründet, das noch heute besteht. Auch andere seiner Spuren sind in Vietnam noch heute lebendig. Patrick Deville ist ihnen während der Recherchen für sein Buch gefolgt.

“Man findet Alexandre Yersin ein bisschen überall im Land. Das Gymnasium in Dalat trägt seinen Namen, das Spital in Hanoi ebenso. In Nha Trang kreuzt die Yersin-Strasse die Pasteur-Strasse. In Vietnam kennen ihn alle. Was in Paris, Genf oder Zürich nicht der Fall ist.”

Doch dies hätte Yersin nicht gekümmert. Er war nie um seinen Ruf besorgt. “Darin liegt seine Eleganz”, kommentiert Buchautor Deville.

Geboren am 22. September 1863 in Aubonne, Kanton Waadt.

Sein Vater, ein Fan von Botanik und Insektenkunde, arbeitet in der Zeughaus-Verwaltung. Er stirbt, bevor sein Sohn geboren wird.

Seine Mutter zieht daraufhin mit ihrem Neugeborenen ins Nachbardorf Morges und kauft dort die Maison des Figuiers, in der sie ein Mädchenpensionat eröffnet. Hier wächst Alexandre auf und verbringt dort später immer wieder einige Zeit zwischen seinen langen Reisen.

In Lausanne (1883-84) und Paris (1885-88) studiert er Medizin. 1889 beginnt er, im Labor von Louis Pasteur in Paris zu arbeiten. Zwei Jahre später verlässt er das Labor.

Als Schiffsarzt befährt er die Meere Asiens. In Indochina entdeckt er das Hochland von Lang Bian, wo sich dank ihm heute die Stadt Dalat befindet.

Im Juli 1894 identifiziert er in Hongkong das Pestbazillus und entwickelt den ersten Impfstoff gegen die Pest in China.

Yersin war es auch, der 1899 den Kautschukbaum nach Indochina brachte. Die erste Latex-Ernte wurde 1904 vom Michelin-Konzern gekauft.

Von 1902 bis 1904 gründet und leitet er die medizinische Schule in Hanoi. 1904 wird er zum Direktor der Pasteur-Institute Saigon und Nha Trang ernannt. Auf dem Dach seines Hauses in Nha Trang installiert er eine kleine Sternwarte.

1915 eröffnet er in Hon Ba eine landwirtschaftliche Forschungsstation. Dort führt er erste Versuche zur Akklimatisierung von Chinarindenbäumen (Cinchona) durch, die zur Gewinnung von Chinin gegen die Malaria verwendet werden.

Er stirbt am 28. Februar 1943 in Nha Trang, wo er auch begraben liegt.

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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