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Fukushima: Unachtsame Nuklearbehörde

AKW Mühleberg bei Bern. Seit 1972 in Betrieb. Hans Rudolf Lutz war der erste Direktor dieses Kernkraftwerks. RDB

Dass das Tsunami-Risiko in Japan unterschätzt wurde, erstaunt auch Kernphysiker Hans-Rudolf Lutz. Trotzdem glaubt der ehemalige Direktor des AKW Mühleberg an die Zukunft des Nuklearstroms. In Fukushima hätten die Sicherheitsbehörden versagt, sagt er.

Nach der Katastrophe in den Kernkraftwerken von Fukushima ist der Mythos der japanischen Perfektion in Sachen Qualität und Sicherheit ziemlich angeschlagen.

Hans Rudolf Lutz, während des Baus und der ersten Betriebsjahre Direktor des AKW Mühleberg, verteidigt die Technologie, staunt aber über die Unachtsamkeit der japanischen Nuklearbehörde. Tsunami sei ja ein japanisches Wort – es mute ihn seltsam an, dass ausgerechnet in diesem Land das Tsunami-Risiko derart unterschätzt wurde.

swissinfo.ch: Hat sich im Fall der Katastrophe von Japan nicht deutlich gezeigt, dass auch die Nuklear-Technologie nicht unfehlbar ist?

Hans Rudolf Lutz: Sicher ist die Nukleartechnik nicht unfehlbar. Three-Mile-Island oder Tschernobyl gehören zu den tragischen Grossunfällen. Wobei Tschernobyl mit Fukushima in Japan gar nichts gemein hat.

swissinfo.ch: Und dennoch ist die Welt der Meinung, dass gerade in Japan viele Perfektionisten leben. Ingenieure, Entwickler oder Konstrukteure, die höheren Qualitätsstandards und Sicherheitsansprüchen verpflichtet sind.

H.R.L.: Da möchte ich persönlich ein Fragezeichen dazu machen. Ich war in Japan und habe gesehen, wie äusserst exakt Schnellzüge dort fahren. Tritt aber eine Störung ein, und sei es nur Schnee, stand auch mein Shinkansen zwei Stunden lang still auf den Schienen.

Deshalb: Gegen äussere Einwirkungen und Umgebungseinflüsse ist auch die beste Technik nicht gefeit.

swissinfo.ch: Genau aus diesen Gründen sprechen sich nach den Unfällen in Fukushima viele traditionelle Nuklearenergie-Befürworter für einen Ausstieg aus dieser Energie aus…

H.R.L.: …wobei das meistens Politiker sind. Von Leuten, die wirklich in der Nuklearenergie arbeiten, habe ich noch nichts von Ausstiegsszenarien gehört. Besonders international. In Japan, China, Indien, Russland, Finnland, Frankreich und den USA ist der Ausstieg kein Thema. Deutschland spricht davon. Und jetzt soll das bei uns auch gemacht werden.

swissinfo.ch: Wollen Sie damit sagen, dass kurzfristige, unrealistische Emotionen und langfristige, realistische Ausstiegsszenarien vermischt werden?

H.R.L.: Das kann sein. Ich bin aber überzeugt, dass die Schweiz nicht aussteigen wird.

swissinfo.ch: Aber vielleicht wird sie auf mittlere Sicht aussteigen wollen?

H.R.L.: Nein. Allein in China sind gegenwärtig 25 Reaktoren im Bau. Und heutige Reaktoren können bis 60 Jahre in Betrieb sein. Ich sage einfach heute voraus, dass in fünf oder sechs Jahren kaum mehr von Ausstieg gesprochen werden wird.

Und man wird weiter Kernkraftwerke bauen, weil sie in vieler Hinsicht die beste Art sind, Elektrizität und Wärme zu erzeugen.

swissinfo.ch: Ihre Wahrnehmung in Sachen Nuklearenergie hat sich also auch nach den Ereignissen in Fukushima nicht geändert?

H.R.L.: Ja, sie ist immer noch positiv. Genau wie in Japan. Dort sind auch heute noch 48 KKW in Betrieb. Und es denkt niemand daran, sie stillzulegen.

swissinfo.ch: Sind Sie der Meinung, dass es in Japan zur Zeit kaum Alternativen zum Nuklearstrom gibt? Vielleicht ist das Land ja in 20 Jahren energietechnisch weiter fortgeschritten.

H.R.L.: Da gibt es nur eine Option, die Fusionsenergie. Falls sie einen Durchbruch macht, und auch wirtschaftlich würde, dann wird sie die Kernkraft ablösen. Aus der heutigen Sicht jedoch dürfte das noch lange gehen.

Alternativen für Japan gäbe es jedoch heute schon genug. Verflüssigtes Erdgas, Erdöl, wohl auch Kohle aus China. Japan ist nur zu rund einem Drittel nuklearstromabhängig.

swissinfo.ch: Oft hiess es nach Tschernobyl, bei uns im Westen sei so eine Katastrophe nicht möglich. Aber Fukushima funktionierte mit westlicher Technologie.

H.R.L.: Es hiess: Katastrophen à la Tschernobyl seien bei uns nicht möglich. Dort war der Reaktortyp ein ganz anderer. Dort gab es eine nukleare Explosion, fast schon eine Art von Atombombe, mit Brand. In Japan hingegen kam es zu einem Three-Mile-Island-artigen Unfall: Brennstoffschmelzung wegen ungenügender Kühlung. Wegen dem austretenden schwarzen Rauch hat man auch in Fukushima geglaubt, es brenne. Aber das sind wohl nur Kabel gewesen.

Bis jetzt ist in Japan auch die radioaktive Strahlung sehr gering geblieben.

swissinfo.ch: Und die Radioaktivität, die in Tokios Trinkwasser gefunden wurde?

H.R.L.: Die japanische Toleranzdosis ist viel kleiner als in Europa. Auch sei die Radioaktivität inzwischen wieder zurückgegangen, hiess es am Donnerstag. Ich habe gehört, dass die Toleranzwerte zehn Mal tiefer liegen als beispielsweise in Deutschland.

Das hat mich schon erstaunt. In der Schweiz liegt die Toleranz rund vier Mal höher als in Japan. Mit anderen Worten, unter gleichen Umständen wäre es in Deutschland oder der Schweiz zu gar keinem Wasser-Alarm gekommen. Ich glaube deshalb, dass hier Hysterie im Spiel ist.

swissinfo.ch: Es bleiben die Risiken, die auch in der Schweiz existieren. Terroranschläge, Erdbeben, Entsorgung…

H.R.L.:… das mit der Entsorgung wollen wir gar nicht erst zu diskutieren beginnen! Die Risiken sind bei der Entsorgung wohl tausend Mal kleiner als im Reaktor selbst. Im Reaktor ist die Radioaktivität viel höher, bei einer Temperatur von 2000 Grad. Während in einem Abfall-Lager, bei normalen Temperaturen und verfestigt, in rund 500 Meter Tiefe kaum noch etwas passieren kann.

Mit verfestigtem radioaktiven Abfall gab es auch noch nie einen Unfall. Nur ein Vulkanausbruch direkt unter dem Endlager könnte zu einer Verstrahlung führen!

Auch die Erdbeben-Gefahr ist berücksichtigt. Mühleberg, mehr oder weniger zeichnungsgleich wie Fukushima, hat aber erdbeben- und überflutungssichere Notkühlsysteme und Notstrom-Aggregate. Deren Versagen waren in Fukushima an allem schuld.

swissinfo.ch: Weshalb?

Wegen dem unterschätzten Tsunami-Risiko. Was ich bei Fukushima nicht verstehen kann, ist der Umstand, dass die Japaner die Erdbeben-Welle derart unterschätzten. Allein das Wort Tsunami ist japanisch.

Und ausgerechnet die Japaner hatten die Notstromaggregate nicht tsunamisicher eingebaut. Die Dieseltanks standen offenbar einfach draussen und wurden weggeschwemmt. In Mühleberg sind die alle eingebunkert.

Daraus schliesse ich, dass die japanischen Sicherheitsbehörden versagt haben.

In der Schweiz ist es das Eidgenössische Nuklearsicherheits-Inspektorat ENSI. Es kontrolliert die Anlagen vor dem Bau und während dem Betrieb, besonders, wenn etwas passiert ist. Nach dem Three-Mile-Island-Unfall wurden alle Schweizer Anlagen nachgerüstet. In Japan aber, waren die Annahmen zur Höhe der Tsunamiwelle offenbar zu wenig realistisch.

Von den 27 EU-Staaten setzen 14 bei der Energiegewinnung auf Kernkraft. Frankreich gehört mit einem Anteil von 80% an seinem Energieverbrauch zur Spitzengruppe. Einige Reaktoren stehen auch in erdbebengefährdeten Gebieten.
 
Frankreich hat am meisten Reaktoren, nämlich 58; es folgen Russland (32), Grossbritannien (19), Deutschland (17), Ukraine (15), Schweden (10), Spanien (8), Belgien (7), Tschechien (6), Schweiz (5), Finnland (4), Ungarn (4), Slowakei(4), Bulgarien (2), Rumänien (2), Slowenien (1), Niederlande (1). Italien und Polen haben Pläne zum Bau von Anlagen.
 
Spitzenreiter in der übrigen Welt sind die USA (104), Japan (55), Südkorea (21), Indien (20), Kanada (18) und China (13).

Ab 2020 müssen die ersten der fünf Schweizer AKW stillgelegt werden. Sie kommen ans Ende ihrer technischen Betriebsdauer. Dann müssten 20 bis 30% des schweizerischen Stromkonsums ersetzt werden.

Die Stromwirtschaft will diese Lücke mit neuen AKW und Kohle- oder Gaskraftwerken decken.

Die Agentur für erneuerbare Energien und Energieeffizienz ist der Ansicht, dass erneuerbare Energien bis 2030 zwischen 55 und 75 Mrd. kWh mehr Strom liefern können, je nach Ausbau.

56% der in der Schweiz erzeugten Elektrizität stammen aus Wasserkraftwerken, 39% aus Atomkraftwerken und der Rest aus verschiedenen Anlagen, die Erdöl, Erdgas, Holz, Abfall, Sonne oder Wind nutzen.

Seit 1960 hat sich die Stromerzeugung in der Schweiz fast verdreifacht auf über 60 Mrd. Kilowattstunden (kWh) pro Jahr.

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