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Zweitwohnungen werden zur ersten Priorität

Die meiste Zeit ungenutzt: Zweit- und Ferienwohnungen in den Alpen. Im Bild: Champfer im Oberengadin. Keystone

Im Juni 2005 kam es im Oberengadin zu einer landesweit Kreise ziehenden Volksabstimmung, was Zweitwohnungen, Raumplanung und Tourismus betrifft.

Viele Gemeinden in der Schweiz sind mit Zweitwohnungen konfrontiert. In touristisch intensiven Regionen ist guter Rat besonders teuer.

Vergangenen Juni nahmen die Oberengadiner Gemeinden mit einem Ja-Anteil von 72% eine Volksinitiative an, die den Bau von Zweitwohnungen stark einschränkt. Neu darf nur noch ein Viertel der bisher gebauten Zweit- und Ferienwohnungen (Fewos) erstellt werden, mit anderen Worten noch 100 Einheiten pro Jahr.

Mit diesem vom Stimmvolk auferlegten Zwang zur Kontingentierung manifestiert sich ein Umgang mit dem Unbehagen über die Zersiedelung, der auch anderswo Beispiel machen könnte.

Oberengadin: Ein Beispiel zum Nachahmen?

Die Schweizerische Reisekasse Reka gehört zu den grössten Bewirtschaftern von Fewos in der Schweiz. Direktor Werner Bernet ist überzeugt, dass das Oberengadin richtungsweisend abgestimmt hat. “Es gibt aber ausser der Kontingentierung von Bauvorhaben auch noch andere Massnahmen, um Leer-Schlaforte zu vermeiden”, sagt er gegenüber swissinfo.

Bernet denkt vor allem an Bewirtschaftungs-Verträge, wie sie von den Gemeinden mit Fewo-Vermittlern abgeschlossen werden können. Laut Bernet könnten auch andere Ferienorte zu Volksinitiativen greifen, “wenn die Baubranche in der konjunkturellen Überhitzung ihre Grenzen nicht mehr sieht”.

“Unübersichtliche Situation”

“Die Situation ist völlig unübersichtlich”, sagt Peter Keller, Chef des Ressorts Tourismus im Staatssekretariat für Wirtschaft (seco), gegenüber swissinfo. “Man weiss nicht, wie viele Zweitwohnungen auf dem Markt sind, und wie genau sie genutzt werden.”

“Die Probleme zeigen sich aber nur in den grossen Tourismusregionen wie dem Engadin oder in Zermatt, während in den weniger bedeutenden Region die Bautätigkeit sehr beschränkt bleibt.”

Andere Kantone, andere Sitten

Judith Renner-Bach, Direktorin des Schweizer Tourismus-Verbands (STV), hält eine politische Baueinschränkung wie im Oberengadin anderswo auch für möglich. Sie weist aber auf völlig gegenteilige Entwicklungen hin: “Im Mittelwallis beispielsweise bewirtschaftet man Fewos intensiver als im Oberengadin.” Dementsprechend höher seien in diesem Kanton die Bedenken gegenüber einem Baustopp.

Ärger bereite in erster Linie die schlechte Datenlage, sagt Renner zudem: Das gesamte Zweitwohnungs-Spektrum mit Auswirkungen auf Landschaft, Wirtschaft und Eigentumssituation sei sehr komplex. Dementsprechend reichen, so die STV-Direktorin, die von Politikern vorgeschlagenen Massnahmen je nach Region vom völligen Baustopp bis zur Liberalisierung.

Christine Wittwer, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim seco, spricht von einer “unvollständigen Datenlage”. Zahlen stünden einzig für die Volkszählungsjahre 1970, 1980 und 2000 zur Verfügung.

Landesdurchschnitt 12%, Oberengadin fast 60%

1970 waren landesweit offiziell 5,9% des Gesamtwohnungs-Bestandes Zweitwohnungen, 1980 8,8% und 2000 bereits knapp 12%, was einer Gesamtzahl von 420’000 entspricht.

Damit präsentiert sich das Oberengadin mit einem Zweitwohnungs-Anteil von fast 60% als absolute Extremregion. Zusätzlich glitzert rund um St. Moritz der “Glamour”-Effekt: viele Fewos dienen als Vorzeigeobjekte, werden also noch weniger als anderswo genutzt oder vermietet und treiben die Preise hoch.

Die Betten bleiben somit, touristisch gesprochen, “kalt”. Ein wirtschaftlicher Nutzen stellt sich nicht ein, ganze Ortsteile verkommen zur Schlafstadt, der Detailhandel wandert ab. Und das Geld, auch das der vielen Ausländer, bleibt in der Immobilie als Kapitalanlage geparkt.

Baufixierte Gemeindepolitik

Das einflussreiche Oberengadiner Baugewerbe und auch die Gemeindepolitiker hatten sich vehement gegen die Initiative gewehrt. Die dennoch hohe Annahmequote von 72% zeigt auf, wie weit sich die offizielle Politik von den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung entfernt hat.

Anderseits hat die Tourismusbranche die Initianten zumindest inoffiziell unterstützt. Was nützen dem Tourismus überzählige Bettenkapazitäten, wenn man sie nicht bewirtschaften kann. Herausgeputzte Luxusretorten sind für die Gäste nur attraktiv, wenn sie sie auch benutzen können – tagsüber aber sucht der Gast in den Bergen unverbaute Wildnis und Natur pur.

swissinfo, Alexander Künzle

Die Zahl der Ferienwohnungen hat sich seit 1980 verdoppelt, von 240’000 auf rund 420’000 (Eidg. Volkszählung 2000).
Schweizweit werden 12% aller Wohnungen nur als Ferienwohnung genutzt.
Graubünden und Wallis führen mit 37,1 resp. 35,7%.
Im Oberengadin beläuft sich dieser Anteil auf 58%.
Das Tessin folgt mit 24,4%.
Der Kanton Bern kommt nur auf einen Anteil von 9,8%.
In absoluten Zahlen dominiert jedoch das Wallis mit 61’614 Zweitwohnungs-Einheiten, gefolgt von Graubünden mit 47’902.
Es folgen Bern mit 45’623, und das Tessin mit 45’175.

Die Lex Koller (Bundesgesetz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland) nimmt Einfluss auf Bau und Erwerb von Zweitwohnungen.

Im Raumplanungsrecht in der aktuellen Fassung sind keine Regelungen zu diesem Thema vorgesehen.

Gemeinden oder Regionen können aber eigene Regelungen erlassen.

Der Bundesrat hat im Januar 2005 beantragt, die “Lex Koller” aufzuheben, und dafür das Raumplanungs-Gesetz zu revidieren.

Der Zweitwohnungsbau wird in der Schweiz oft kritisch mit Boden-Verschwendung und Beeinträchtigung von Orts- und Landschafts-Bildern in Zusammenhang gebracht.

Diese Fewo bringen oft nur geringen wirtschaftlichen Nutzen für die Region.

Das Potenzial könnte durch Massnahmen gefördert werden.

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