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Videoclips als Jungbrunnen für direkte Demokratie

Der Startschuss zur Motivation von Genfer Jugendlichen für die politische Teilnahme war ein Manga-Comic des jungen Zeichners Walder. CinéCivic

Eine Mehrheit der Jungen in der Schweiz bleibt den Urnen fern. Genf will mit einer originellen Strategie gegen diese Tendenz ankämpfen, indem es die jungen Menschen selber ins Zentrum rückt. Höhepunkt ist ein Kurzfilm-Wettbewerb, bei dem Kunst und Bürgerpflicht der "Digital Natives" Hand in Hand gehen.

Die Tatsache, dass junge Menschen oft der Urne fernbleiben, ist seit längerem bekannt. Es ist auch nicht eine Schweizer Spezialität. Trotzdem reagierte die Schweiz bestürzt, als die Vox-Analyse des Instituts gfs.bern und der Universität Genf zur Abstimmung über die Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” vom 9. Februar 2014 schätzte, dass lediglich 17% der Unter-30-Jährigen überhaupt ihre Stimme abgegeben hatten.

Die Polemik vermochte auch nicht komplett abzuebben, als die Forscher der Universität diese Quote überarbeitet und geschätzt hatten, dass sie wahrscheinlich eher bei rund 30% gelegen hatte.

Komplexe Gründe

Absentismus der Jungen bei Abstimmungen und Wahlen ist ein Phänomen, das verschiedene westliche Länder beschäftigt. Aus zahlreichen Studien ging hervor, dass die Gründe dazu vielfältig sind.

Am häufigsten erwähnt werden die Komplexität der Themen und der möglichen Auswirkungen, fehlende Attraktivität der Politik, unverständliche Formulierungen und unzulängliche Kommunikationsmittel.

Vielfältig sind deshalb auch die vorgeschlagenen Massnahmen, um die Teilnahme der Jugend bei politischen Entscheiden zu fördern. Die häufigsten Vorschläge: Stärkung des Staatskunde-Unterrichts und der Anreizpolitik, die Jugend auf allen Stufen einzubeziehen, die Nutzung neuer Kommunikations-Technologien und die Herabsetzung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 16 Jahre.

In einer Studie zur Mediennutzung und zur politischen PartizipationExterner Link der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur, die im September 2014 publiziert wurde, zeigten sich zwei Drittel der 3400 Befragten zwischen 14 und 25 Jahren interessiert an der Politik. Sie diskutierten darüber aber hauptsächlich über Chats und soziale Netzwerke.

Es ist unmöglich, zu sagen, wie hoch die Beteiligungsquote nach Altersgruppe oder Geschlecht bei einer Eidgenössischen Abstimmung ist, denn diese Daten werden nicht erhoben. Einzig die Stimmbeteiligung der Gesamtbevölkerung wird jeweils ausgewiesen. Bei der genannten Abstimmung lag diese bei überdurchschnittlichen 56,6%.

Ausser genaueren Statistiken wurden von den Parteien auch andere Massnahmen gefordert, um die Jungen vermehrt zur Stimmabgabe zu motivieren. Unter den am meisten vorgeschlagenen Möglichkeiten findet sich in verschiedenen Kanton und auf Eidgenössischer Ebene die Forderung nach einer Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters von 18 auf 16 Jahre. Gegenwärtig verfügen einzig im Kanton Glarus die 16-Jährigen über dieses Recht.

In ihrer Antwort auf ein Postulat von Mathias ReynardExterner Link, Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP), zeigte sich die Schweizer Regierung bereit, zu untersuchen, ob solche Massnahmen “die geeigneten Mittel sind, um die politische Beteiligung zu fördern”. Das Stimmrechtsalter 16 und die Frage, ob es die Teilnahme an der Politik zu verstärken mag, sind Gegenstand von Kontroversen in vielen Ländern, nicht nur in der Schweiz.

Im Gegensatz zur Eidgenossenschaft verfügt Genf über kantonale Statistiken betreffend Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen, aufgeschlüsselt nach Alter und Geschlecht. Diese zeigen etwa, dass die gesamte Stimmbeteiligung am 9. Februar im Kanton bei 58,6% lag, während jene der 18-19-Jährigen 44,5% betrug, zwischen 20 und 24 Jahren 42% und bei den 25-29-Jährigen 43,2%.

Doch Genf wartete nicht die Analyse des Urnengangs vom 9. Februar ab, um zu reagieren. Die Interessenlosigkeit der Jugend beschäftigte die Genfer Kanzlerin Anja Wyden GuelpaExterner Link seit sie ihr Amt vor knapp fünf Jahren angetreten hat.

“Die Stimmbeteiligung der Jungen liegt gewöhnlich zwischen 15 und 20 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt des gesamten Elektorats im Kanton”, sagt sie gegenüber swissinfo.ch. Ein Unterschied, den sie als “enorm” bezeichnet. Und der im Vergleich mit der Altersgruppe zwischen 70 und 74 Jahren, also jener mit der höchsten Stimmbeteiligung, auf bis zu 40 Prozentpunkte anwachsen kann.

Vom Manga zum Clip

Institutionen 3D

Das Manga-Comic und der Filmwettbewerb CinéCivic sind nicht die einzigen Initiativen der Genfer Staatskanzlei, um die politische Teilnahme der Jungen bei Wahlen und Abstimmungen zu fördern.

In Partnerschaft mit anderen Einrichtungen hat sie das Projekt “Institutions 3D” entwickelt, um Schülern und Jugendlichen die Gewaltentrennung im Kanton und deren Funktionen näher zu bringen.

Mit Rollenspielen und Animationen an den Sitzen der entsprechenden Institution (Regierung, Parlament, Justiz) sollen die Kinder und Jugendlichen als Teil des Staatskunde-Unterrichts auf spielerische Art an fiktiven Sitzungen teilnehmen.

Das Programm ist auf drei Altersgruppen zugeschnitten: 10-11 Jahre, 13-14 Jahre und Lehrlinge.

Obwohl kein Einzelfall, ist Genf der einzige Kanton, der mit konkreten Initiativen versucht, das Steuer herumzureissen. “Wir haben uns gefragt, warum sie nicht abstimmen. Da haben wir begriffen, dass es, um mit den Jungen reden zu können, zentral ist, ihre Redeweise, ihre Geräte und ihre Kommunikationskanäle zu benutzen.” Und wer könnte das besser, als ihre Altersgenossen?

So wandte sich die Staatskanzlei an einen jungen Genfer Künstler. Er sollte ein Manga erarbeiten, mit dem Ziel, den jungen Menschen die Bedeutung der politischen Teilnahme näher zu bringen. Unter dem Titel “Die Zukunft in unseren Händen” wurde das Comic 2012 publiziert und an alle 18-jährigen Genferinnen und Genfer geschickt.

Im Jahr darauf wurde ebenfalls unter dem Motto “für Junge, von Jungen” der Videoclip-Wettbewerb CinéCivicExterner Link ins Leben gerufen. Jungregisseure werden aufgerufen, Kurzfilme einzureichen, die sowohl von der technischen Machart wie auch inhaltlich in der Lage sind, junge Menschen zur Stimmabgabe zu motivieren. Dies “mit einfachsten technischen Mitteln, wie etwa einem Smartphone oder Kamera und Mikrofon. Das heisst, mit wenig Geld”, erklärt Wyden Guelpa.

Unkonventionelle Szenen für ernsthafte Reflexion

Mit Fantasie, Ironie und Ästhetik regen die Jungfilmer ihre Altersgenossen an, über die Bedeutung der Stimmabgabe zu sinnieren. Überlegungen, die zuallererst die Realisatoren selber vertieft haben, wie alle von swissinfo.ch kontaktierten Filmerinnen und Filmer erklären.

So auch Valeria Mazzucchi, eine 24-jährige Studentin, Gewinnerin des Grand Prix CinéCivic 2013. Laut ihr “stimuliert dieser Wettbewerb gleichzeitig eine Reflexion bei Teilnehmenden wie auch beim Publikum”. Diesen schickt Valeria mit ihrem geistreichen Kurzfilm eine klare Botschaft: “Abstimmen heisst entscheiden”.

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Die Jungfilmer bestätigen uns, dass sie aus ihrer Analyse für den Film ihre eigenen Lehren gezogen hätten. Und das Thema “stand während Monaten im Zentrum der Gespräche in unserem Freundeskreis, sei es während den Vorbereitungen oder nach der Veröffentlichung des Films”, sagt der 22-jährige Student Mateo Ybarra, der gemeinsam mit Marie Van Berchem den Medienpreis CinéCivic 2013 für den Film “Die gute Geste” erhalten hat.

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“Die gute Geste”

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Video von Mateo Ybarra und Marie Van Berchem (Medienpreis CinéCivic 2013)

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“Als ich den Film realisierte, habe ich ihn anderen gezeigt, sie um ihre Meinung gefragt, um meine Arbeit noch verbessern zu können. So hatte ich einen Austausch und konnte auch Stimmabstinenten erklären, warum ich der Meinung bin, dass es wichtig ist, abstimmen zu gehen”, erzählt der 21-jährige Michel Thorimbert. Er nimmt am Wettbewerb 2014 teil, dessen Preisverleihung am 13. Oktober über die Bühne gehen wird.

“Diese Erfahrung hat mich überzeugt, meine Freunde und Bekannten zu ermutigen, abstimmen zu gehen, wie auch ich es tun werde, wenn ich volljährig bin”, sagt Matthis Pasche, ein Gymnasiast von 16 Jahren, der ebenfalls dieses Jahr einen Kurzfilm im Wettbewerb laufen hat.

Zunehmende Teilnahme der Jungen

Der Erfolg der ersten Ausgabe des Filmwettbewerbs hat Anja Wyden Guelpa und ihr Team ermutigt, diese Initiative weiterzuführen und ihr einen zusätzlichen Spin zu geben: Nun werden die Jungen auch bei der Organisation eingesetzt und entwickeln neue Kooperationen. Auf der Grundlage der Erfahrungen der ersten Ausgabe wurde auch die Formel des Wettbewerbs aufgefrischt.

Doch die jungen Filmemacher fragen sich bereits, wie es nach dem Wettbewerb weitergeht. “Ich hoffe, dass die Staatskanzlei uns unterstützt und die Filme veröffentlicht. Ich denke da an Busse, das Lokalfernsehen oder andere Medienkanäle. Denn indem man sie einzig auf der Website stehen lässt, ohne Promotion, erreicht man das Ziel der Sensibilisierung nicht”, sagt Michel Thorimbert. “Eine gute Idee wäre, die Filme bei einem Festival zu zeigen, wie etwa in Locarno”, schlägt Mateo Ybarra vor.

Die Genfer Staatskanzlei nimmt die Vorschläge und Ideen der Jungregisseure ernst. “Die Idee ist es ja gerade, die Teilnehmenden möglichst gut zu integrieren”, sagt Wyden Guelpa. So wurden die Siegerfilme des letzten Jahres während einem Monat im Kino, am Openair Cinétransat und in den Schulen gezeigt. Gegenwärtig sei man mit einem Filmfestival in Verhandlung. Doch bei einem Budget von 25’000 Franken können keine Wunder erwartet werden.

Auf jeden Fall würden alle möglichen Kooperationen und Verbreitungskanäle geprüft. “Unsere Vision ist, dass CinéCivic über den Wettbewerb hinaus das ganze Jahr hindurch zu einer echten Austauschplattform wird, mit einer lebendigen Website und Aktionen in den sozialen Medien”, so die Kanzlerin. “Das Ziel ist, dass die Jungen abstimmen gehen, denn nur mit ihrer Teilnahme können politische Ideen erneuert werden.”

CinéCivic 2014

Am Wettbewerb mit Kurzfilmen, welche die Jungen zum Abstimmen ermuntern sollen, können 15- bis 25-Jährige, im Kanton Genf lebende Jugendliche und junge Erwachsene mitmachen.

Die Prämierungs-Zeremonie wird am 13. Oktober am Sitz der Radio Télévision Suisse (RTS) über die Bühne gehen.

In zwei Altersklassen (15-18 und 19-25 Jahre) gibt es je einen Preis von 2000 Franken zu gewinnen. Der Prix Médias & Cinéma, dotiert mit 3000 Franken, wird einmalig vergeben.

Zu den Partnern der Genfer Staatskanzlei gehört auch “RTS Découverte”, die pädagogische Abteilung der Radio Télévision Suisse.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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