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“Wäre die Welt ohne Nato unsicherer?”

Reuters

Das nordatlantische Sicherheitsbündnis wird in diesen Tagen 60 Jahre alt. Es hat die Welt und damit auch das Nichtmitglied Schweiz mitgeprägt.

swissinfo hat sich mit Victor Mauer, dem stellvertretenden Leiter des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, über die Nato und das Verhältnis der neutralen Schweiz zu dieser Organisation unterhalten.

swissinfo: Die Nato feiert in den nächsten Tagen ihren 60. Geburtstag. Hätte die Schweiz Vorteile, wenn sie Nato-Vollmitglied wäre?

Victor Mauer: Die Frage einer Vollmitgliedschaft stellt sich für die Schweiz nicht. Sie hat sich im Grunde auch nie gestellt, obwohl das Land während des Kalten Krieges vom Nuklearschirm des Bündnisses profitiert hat.

Auch ein konventioneller Angriff ist in Europa gegenwärtig sehr unwahrscheinlich. Zudem fände eine Vollmitgliedschaft auch innenpolitisch keine Unterstützung (siehe Kasten). Auch neutralitätspolitisch wäre sie nicht vertretbar.

swissinfo: Der grösste Nachteil wäre die Aufgabe der Schweizer Neutralität?

V.M.: Das ist richtig. Artikel 5 des Washingtoner Vertrags stellt sicher, dass im Falle eines Angriffs auf einen Mitgliedsstaat Beistand geleistet werden muss. Dies würde die Aufgabe der Neutralität bedingen.

swissinfo: Die Schweiz ist zwar nicht Vollmitglied, aber sie macht mit beim Nato-Programm Partnerschaft für den Frieden. Könnte dies schädlich sein für die Schweizer Neutralität?

V.M.: Nein, die Schweizer Neutralität ist durch die Teilnahme am PfP-Programm in keiner Weise in Frage gestellt. In erster Linie ist die Partnerschaft für den Frieden ein Programm, welches die zivile und militärische Zusammenarbeit der Staaten fördert. Es kann, muss aber keineswegs, als Vorstufe zu einer späteren Mitgliedschaft genutzt werden. Im Mittelpunkt stehen Transformations- und Ausbildungsprogramme.

Und dabei kann jedes Land entscheiden, wie weit es ich in diesen Programmen einbringen will.

swissinfo: Welche Bedeutung hat die Schweiz für die Nato?

V.M.: Verglichen mit anderen Staaten ist die Bedeutung eher gering. Aber die Schweiz leistet zum Beispiel mit dem International Relations and Security Network des Center for Security Studies der ETH Zürich und den Genfer Zentren (Sicherheitspolitik, Humanitäre Minenräumung, Demokratische Kontrolle der Streitkräfte) einen aktiven Beitrag bei der Ausgestaltung der Ausbildungsprogramme.

Der militärische Beitrag der Schweiz ist jedoch, vor allem im Vergleich mit anderen Staaten, gering. Das Land nimmt im Rahmen der Kfor-Mission mit dem Swisscoy-Kontingent teil. Der Beitrag ist wichtig und wird weithin geschätzt.

swissinfo: Trotzdem gibt es in der Schweiz Kreise, für die das Nato-Engagement des Landes eine Durchlöcherung der Neutralität bedeutet. Weshalb?

V.M.: Für gewisse Kreise ist die Nato bis heute das Bündnis des Kalten Krieges. In Wirklichkeit verharren diejenigen, die die Nato als klassisches Militärbündnis kritisieren, selbst im mentalen Schützengraben des Ost-West-Konflikts. Das Bündnis hat den Kalten Krieg längst hinter sich gelassen.

swissinfo: Die Nato ist also nicht mehr das, was sie bei ihrer Gründung 1949 war?

V.M.: Das ist richtig. Das Bündnis hat seit der Zeitenwende 1989/1991 einen fundamentalen Transformationsprozess vollzogen. Aber die Nato war auch während des Kalten Krieges bereits mehr als ein reines Militärbündnis. Sie war ein transatlantisches Konsultationsforum, das Sicherheit nach innen und aussen verkörperte.

Dem widerspricht keineswegs die Tatsache, dass der Artikel 5, die Beistandspflicht, nach 1990 auf die Staaten Osteuropas eine enorme Anziehungskraft ausgeübt hat.

swissinfo: Der Nato-Einsatz 1999 in Serbien war ein Präventivschlag, der von der Uno nicht abgesegnet war. Es gab kein Mandat dafür. Ist das die Nato-Politik der Zukunft?

V.M.: Man muss den Kontext der Intervention von 1999 sehen. Das Massaker von Srebrenica war in Politik und Öffentlichkeit allgegenwärtig. Man war sich bewusst, dass man damals im Bosnienkrieg viel zu spät eingegriffen hatte.

Europäer und Amerikaner waren sich einig, keine zweite humanitäre Katastrophe auf dem Balkan zuzulassen. Ein UNO-Mandat gab es nicht, da der Sicherheitsrat wie im Kalten Krieg blockiert war.

Und dennoch wäre es völlig unangemessen, die Nato als Interventionsstreitmacht zu bezeichnen. Heute ist sie kollektive Verteidigungsorganisation, kooperative Sicherheitsorganisation und Krisenmanager mit globalen Aufgaben in einem.

swissinfo: Wie würde eine Welt ohne die Nato aussehen?

V.M.: Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes erwarteten nicht wenige auch das Ende der Nato. Dass die Atlantische Allianz unverändert fortbesteht, liegt in erster Linie daran, dass sie sich spätestens seit 1994 erfolgreich einem grundlegenden Transformationsprozess unterworfen und den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen gestellt hat.

Würde die Nato heute aufgelöst, dann würde sich unweigerlich die Frage stellen, welche ordnungspolitischen Strukturen an ihre Stelle treten sollten.

Wir brauchen Ordnungsstrukturen – ob das nun im finanz- und wirtschaftspolitischen Bereich oder aber im sicherheitspolitischen Bereich der Fall ist. Ich glaube, die Welt wäre insgesamt unsichererer, wenn es das nordatlantische Bündnis nicht gäbe.

swissinfo-Interview: Etienne Strebel

Victor Mauer ist stellvertretender Leiter des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Er leitet den Forschungsbereich Europäische Sicherheitspolitik und transatlantische Beziehungen.

Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, Völkerrecht und Internationale Beziehungen an den Universitäten Bonn, Oxford und Cambridge.

Spezialgebiete: Die transatlantischen Beziehungen, die europäische Sicherheitsarchitektur und der europäische Integrationsprozess.

Früher arbeitete er im internationalen Sekretariat der Parlamentarischen Versammlung der Nato in Brüssel.

Laut den jüngsten Umfragen der Studie Sicherheit 2009 wären 3,8% der Schweizer Bevölkerung mit einer Nato-Vollmitgliedschaft sehr einverstanden. Eher einverstanden zeigten sich 17%, eher nicht einverstanden fast 40% und gar nicht einverstanden fast 35%.

Bei der Annäherung an das Bündnis sieht es ein wenig anders aus: Sehr einverstanden sind 5,5%, eher einverstanden 32,8%. Auch hier ist eine Mehrheit nicht mit einer verstärkten Annäherung einverstanden.

Die North Atlantic Treaty Organisation ist ein militärisches und sicherheitspolitisches Bündnis von 25 europäischen Staaten, den USA und Kanada. Es wurde am 4. April 1949 unterzeichnet.

Der Nordatlantik-Vertrag verpflichtet die Nato-Staaten, die Freiheit und Sicherheit ihrer Partnerstaaten mit politischen und militärischen Mitteln zu sichern.

Die Nato wird von einem Generalsekretär geleitet, zurzeit vom Niederländer Jaap de Hoop Scheffer. Er wird im Sommer abgelöst.

Das oberste Nato-Gremium ist der Nordatlantik-Rat mit Sitz in Brüssel. Nato-Beschlüsse müssen von den Mitgliedern einstimmig gefasst werden.

Zu den 28 Mitglied-Staaten gehören auch noch 23 Partner-Länder, darunter die Schweiz und der einstige Nato-Gegner Russland.

Potentielle neue Mitglieder werden zuerst in den “Aktionsplan für die Mitgliedschaft” (MAP) aufgenommen. Dann erhalten die Länder eine “Einladung zum Beitritt”.

Nato-Missionen finden derzeit statt in Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, Irak und Darfur im Sudan. Zudem setzt die Nato im Mittelmeer Flotten ein, zum Schutz vor einem möglichen Terror-Anschlag.

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