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Ausländer wählen in Berlin – aber nur symbolisch

Wer den deutschen Pass besitzt, darf wählen. Keystone

Wählen, auch wenn man den deutschen Pass nicht besitzt – das bleibt Ausländern in Deutschland verwehrt. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Berlin soll eine symbolische Wahl für Ausländer in der Stadt auf das fehlende Wahlrecht aufmerksam machen.

Mehr als sein halbes Leben hat Christian Dieterle in Deutschland verbracht. Der Schweizer hat in den 1980er-Jahren an der Folkwang-Hochschule Essen seine Schauspielausbildung gemacht, danach an zahlreichen Theaterbühnen im ganzen Land gearbeitet und sich in den vergangenen Jahren als frei schaffender Schauspieler und Sprecher einen Namen gemacht.

Sogar mit der unterkühlten norddeutschen Art hat er sich angefreundet. Zehn Jahre wohnte Dieterle in Bremen, war Ensemblemitglied der dortigen Shakespeare Company, weitere vier Jahre hat er in Hamburg verbracht. Heute wohnt der 52-Jährige in Berlin, genauer in Kreuzberg, wo er sich eine Wohnung gekauft hat.

“Hier bin ich zu Hause”, sagt der gebürtige Zürcher. Nur etwas fehlt Dieterle für das perfekte “Heimatgefühl”, nämlich das Recht, in Berlin wählen zu dürfen. Zum Beispiel gerade jetzt: Am 18. September werden Abgeordnetenhaus und Bürgermeister gewählt.

Zur Wahl berechtigt sind alle in Berlin wohnhaften Menschen über 18 mit deutschem Pass. Nicht dazu gehören die 460’000 in Berlin wohnhaften Ausländerinnen und Ausländer, die immerhin rund 13 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen.

Ohne Mitbestimmung keine Identifizierung

Diese Einschränkung ärgert den Schweizer: “Das Wahlrecht gehört zur Integration der ausländischen Bevölkerung”, sagt Dieterle. Denn wer mitbestimmen und sich an seinem Wohnort einmischen dürfe, der identifiziere sich auch stärker damit.

Wessen Stimme dagegen nicht wahrgenommen werde, der sei frustriert und wende sich ab, so Dieterle. “Etwas, das Politiker doch immer wieder an Teilen der ausländischen Bevölkerung beklagen.” Für die Ausweitung des Wahlrechts für Ausländer setzen sich in Berlin auch zwei Vereine ein.

Sowohl “Citizens for Europe” als auch “Jede Stimme” fordern wenigstens für EU-Bürger ein Wahlrecht auf Landesebene – ein Anliegen, das in Deutschland allerdings wenig Unterstützung findet, weil dafür  die Verfassung geändert werden müsste.

“Politisch gangbarer ist natürlich erst mal die Ausweitung des kommunalen Wahlrechts für alle Ausländer”, räumt Christian Miess, Projektmanager beim Verein “Citizens for Europe”, ein. Bislang dürfen lediglich EU-Bürger auf kommunaler Ebene wählen.

Tatsächlich wird über einen entsprechenden Gesetzesentwurf der Grünen demnächst im Innenausschuss des Bundestags abgestimmt. Eine politische Mehrheit wird das Begehren allerdings kaum finden – sowohl die Union als auch die FDP sind mehrheitlich gegen eine Ausweitung des Wahlrechts.

Miess kann das nicht verstehen. “Das restriktive Wahlrecht in Deutschland ist nicht mehr vereinbar mit dem heutigen Europa”, sagt der Politologe. Rund 12 Millionen EU-Bürger wohnten dauerhaft ausserhalb ihres Heimatlands in einem anderen Mitgliedstaat. “Auch wenn diese Menschen den Pass ihres Heimatlands besitzen, wollen sie da wählen, wo sie wohnen, arbeiten und Steuern zahlen.”

Breites mediales Echo

Immerhin: Wenigstens symbolisch dürfen die in Berlin lebenden Ausländerinnen und Ausländer zur Urne, wenn am 18. September Abgeordnetenhaus und Bürgermeister gewählt werden. So organisieren “Citizens for Europe” und “Jede Stimme” erstmalig eine symbolische Wahl für alle erwachsenen Berliner ohne deutschen Pass.

Noch bis zum 4. September können sie ihre Stimme in einem der über 60 Wahllokale abgeben. Die breite Unterstützung und das mediale Echo, welche die Kampagne in den vergangenen Wochen gefunden haben, haben die Erwartungen der Initiatoren weit übertroffen.

Über 100 ausländische Vereine, Quartiertreffpunkte und Organisationen machen mit und mobilisieren für die Wahl, darunter auch grosse Dachverbände wie der Migrationsrat und der Türkische Bund. “Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel von 5000 abgegebenen Stimmen erreichen”, sagt Miess.

Würde das Wahlrecht genutzt?

Auch die Schweizerin Helena Stadler ist dafür, dass Ausländer an ihrem Wohnort wählen dürfen. “Eine Demokratie kann letztlich nur funktionieren, wenn alle Mitglieder demokratisch gebildet sind und an Entscheidungsprozessen beteiligt werden”, sagt Stadler, die seit 25 Jahren in Deutschland lebt.

Als langjährige Geschäftsführerin der Bürgerstiftung Berlin, die sich für benachteiligte Kinder und Jugendliche einsetzt, ist Stadler eine Expertin in Sachen Bildungs- und Migrationspolitik. Die 52-Jährige betont denn auch, dass das Wahlrecht nur ein Baustein sei auf dem Weg zur Partizipation von Ausländern in der Gesellschaft.

Und noch gibt Stadler zu bedenken: Wahrscheinlich würden grosse Teile der ausländischen Bevölkerung gar nicht wählen gehen. Studien zeigten, dass Migranten – gerade aus ärmeren Regionen – mit ihrem ökonomischen Status und ihrem Leben in Deutschland zufrieden seien. Denn im Vergleich mit ihrem Herkunftsland gehe es ihnen weit besser.

“Diese Menschen zum Wählen zu bringen, ist schwierig”, sagt die gebürtige Aargauerin. Ob sie selber an der symbolischen Wahl teilnehmen wird, hat Stadler noch nicht entschieden. Die deutsche Parteienlandschaft überzeugt die Wahlberlinerin schon länger nicht mehr. “Ausserdem bin ich in der glücklichen Situation, dass ich durch meine Arbeit politisch mehr bewegen kann, als wenn ich alle fünf Jahre ein Kreuzchen machen darf.”

Der Schauspieler Dieterle hingegen hat sich bereits kundig gemacht nach dem nächstgelegenen Wahllokal. “Wenn möglichst viele Ausländer symbolisch wählen gehen, dann ist das ein starkes Signal”, ist er überzeugt.

Der Verein “Citizens for Europe” besteht aus einer Gruppe junger Europäerinnen und Europäer und wurde Anfang 2010 in Berlin gegründet.

Mit lokalen und europäischen Partnern realisiert er Projekte zu Themen der europäischen Bürgerschaft, Migration und der grenzüberschreitenden politischen Partizipation.

Vereinsziel ist die Etablierung einer modernen, inklusiven und partizipativen Unionsbürgerschaft.

Diese würde nicht nur EU-Bürgerinnen und –Bürger umfassen, sondern alle Menschen, die langfristig in der EU leben, heisst es.

Citizens For Europe setzt auf die Zusammenarbeit von Akteuren aus Wissenschaft, Politik, Kultur und Kunst und fokussiert in seinen Aktivitäten auf die jüngere Generation.

Die Kampagnen und Aktionen werden vom Gründungsteam aus jungen Erwachsenen aus fünf europäischen Ländern gemeinsam initiiert und umgesetzt – zumeist ehrenamtlich.

Der Verein verpflichtet sich der Transparenz, der wirtschaftlichen Mittelverwendung sowie einer nachhaltigen und umweltbewussten Arbeitsweise.

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