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Bangen und Hoffen für Libyens Neuanfang

In der Rebellenhochburg Benghasi wird bereits gejubelt. Keystone

Der wohl kurz bevorstehende Sturz Gaddafis wird von der Schweizer Presse als gute Nachricht aufgenommen. Experten und Kommentatoren warnen aber auch vor zu viel Euphorie, denn der gebeutelte Wüstenstaat stehe vor riesigen Herausforderungen.

“Der militärische Sieg ist nur eine erste Etappe. Die zweite, nämlich die Errichtung von Frieden und Demokratisierung, wird voller Probleme und Gefahren sein”, heisst es in der Westschweizer Zeitung Le Temps.

Das Genfer Blatt rühmt auch die Zusammenarbeit zwischen der westlichen Militärallianz NATO und dem nationalen libyschen Übergangsrat. Diese habe trotz Zweifeln funktioniert.

Für die Aargauer Zeitung ist klar, dass im August 2011 Geschichte geschrieben wurde. “42 Jahre lang hat der repressive und korrupte Gaddafi-Clan die Menschen in Libyen gequält. 42 Jahre lang hat der Wüstentyrann anderen Diktatoren in der Region geholfen, 42 Jahre lang hat der ‘tollwütige Hund’ (Ronald Reagan) mit Terroranschlägen die USA, Westeuropa und Israel in Angst und Schrecken versetzt.”

Ein Land vor unsicherer Zukunft

Dass Libyen einen steinigen Weg vor sich hat, sind sich alle Zeitungen einig. Die Rebellen seien politisch zerstritten und hätten keine Regierungserfahrung, so die Aargauer Zeitung weiter. “Der Übergang zum ‘neuen Libyen’ wird ruppig werden. Gaddafis Ende bedeutet nicht den Beginn einer Demokratie westlichen Vorbilds.”

“Rache, Säuberungen und Übergriffe sind unter ähnlichen Umständen die Norm”, schreibt die Südschweizer La Regione. “Es ist aber auch der Boden, auf dem die zukünftige Macht einzelner Gruppen oder Parteien gesät wird, sind die Toten erst einmal von den Strassen geräumt.” Besonders die Islamisten, aber auch die Berber, würden wohl fordern, ein Wort dabei mitzureden.

Leicht optimistisch äussert sich der Kommentator im Landboten. “Die Zukunft für das zerrissene Land kann wohl nur Besserung bringen. Zu hoffen ist auf einen Frieden ohne Rachsucht und neue Auswüchse, auf einen Runden Tisch, an dem gemeinsam an der demokratischen Zukunft gearbeitet wird.”

Gleichzeitig warnt aber das Blatt, dass die Aufgabe Europas und der NATO mit dem Ende des Krieges nicht beendet sei. “Libyen steht wohl vor einem langen Reifeprozess, der kaum ohne Rückschläge verlaufen wird. Ganz ähnlich wie in den nahen Revolutionsländern Tunesien und Ägypten.”

Der Westen ist gefordert

Laut dem Boulevard-Blatt Blick beginnt nun nach dem militärischen Sieg “der andere Kampf”: “Jetzt ist der Westen, ist Europa gefragter denn je. Das gilt auch für die Schweiz. Das Ausmass des Engagements für den libyschen Wiederaufbau wird auch Auswirkungen auf Staaten wie den Jemen, Bahrain und vor allem Syrien haben”, so der Blick.

“Sollte die internationale Gemeinschaft nicht über die Nach-Gaddafi-Ära wachen, könnte der Geschmack des Sieges für viele Libyer sehr bitter werden”, warnt der Corriere del Ticino. Er unterstreicht, dass “die Aufteilung der Torte” gefährliche Spannungen und Rivalitäten entfesseln könnte.

Die westlichen Länder sollten besonders einen Fehler vermeiden: “Jenen, den sie in Irak gemacht haben, wo die Finanzierung für den Wiederaufbau nur tröpfchenweise eintraf und im Vergleich zu den Mitteln zur Unterstützung der militärischen Offensive in viel zu geringem Umfang.”

Auch die Westschweizer Zeitungen Tribune de Genève und 24Heures heben hervor, das Ende Gaddafis betreffe alle, vor allem die Europäer, und das aus mindestens zwei Gründen.

Einerseits sei es das Erdöl, das den Alten Kontinenten mit Libyen verbinde. “Der zweite Grund ist, dass Libyen für Tausende bettelarme Menschen aus dem Süden des schwarzen Kontinents als Durchgang nach Europa dient.”

Signalwirkung

Wie der Schweizer Strategie-Experte Albert A. Stahel in der Berner Zeitung schreibt, wird es in Libyen schwieriger sein, eine neue Staatsordnung zu schaffen als zum Beispiel in Tunesien. Dies vor allem wegen der Minderheit der Berber, die seit Jahrhunderten unterdrückt würden. Zudem werde sich der Sturz Gaddafis auf Syrien auswirken.

“In Libyen wurde erstmals ein Regime nicht einfach durch einen Putsch, sondern durch eine militärische Aktion gestürzt. Das heisst, es gibt nun einen Beweis, dass ein Umsturz auch so funktionieren kann. Deshalb könnte diese Art von Umsturz in anderen Ländern in der Region Schule machen. Ich denke da an Syrien.”

Wenn sich die Unterdrückten erheben

Bund und Tages-Anzeiger befassen sich mit den Risiken der Revolution im Allgemeinen. Wie alle Revolutionen sei der libysche Umsturz ein Unternehmen mit offenem Ausgang. Sinn machten Revolutionen aus der historischen Rückschau heraus. In Echtzeit sei ihre innere Dynamik kaum zu erkennen und schwer zu steuern.

 

Das gilt für Libyen ebenso wie für Ägypten, Tunesien, Syrien oder den Jemen. Die Gemeinsamkeiten aller arabischen Aufstände liegen auf der Hand. Die über Jahrzehnte geknechteten, von den Machthabern für dumm verkauften Menschen erheben sich. Sie zahlen bereitwillig den blutigen Preis für Freiheit und Selbstbestimmung. Sie stürzen den Autokraten. Was folgt, weiss keiner.”

Mitte Februar: Beginn der Proteste gegen Gaddafi. Sie werden gewaltsam niedergeschlagen, dehnen sich aber auf andere Städte aus. Der Osten des Landes fällt in Rebellenhand.

März: Frankreich erkennt als erstes Land die Rebellen als “einzige Vertretung” an. Der UNO-Sicherheitsrat erlaubt den Einsatz von Gewalt. Eine Koalition von westlichen Staaten beginnt mit Luftangriffen. Die NATO übernimmt das Kommando.

April: Die Libyen-Kontaktgruppe fordert den Rücktritt Gaddafis. Militärberater werden zu den Rebellen geschickt.

Mai: Gaddafi-Sohn Seif al-Arab wird getötet. Die Rebellen nehmen den Flughafen von Misrata ein.

Juni: Der Internationale Strafgerichtshof erlässt Haftbefehle gegen Gaddafi.

Juli: Die Libyen-Kontaktgruppe anerkennt die Rebellen, auch die Schweiz vollzieht diesen Schritt.

21. August: Rebellen rücken in Tripolis ein und bringen Teile unter ihre Kontrolle.

22. August: Die Kämpfe konzentrieren sich auf den Stadtteil um Gaddafis Residenz.

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