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“Wir machen das jetzt”

Jonas Lüscher
Jonas Lüscher in München. Jan Krattiger

Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher ruft dazu auf, europaweit am 13. Oktober auf die Strasse zu gehen – für ein geeintes Europa. Ein Gespräch über erstarkenden Nationalismus, das Klein-Klein des Aktivismus und unnötige Grabenkämpfe.

Ein Freitagmittag im September. Der Schweizer Schriftsteller und Wahl-Münchner Jonas Lüscher steht am Gleis 11 des Hauptbahnhofs von München und wartet auf seinen Mitstreiter, den österreichischen Philosophen Michael Zichy.

Die beiden treffen sich seit einigen Jahren schon regelmässig zu Gesprächen über Politik und den Zustand der Gesellschaft. Vor einigen Wochen entschlossen sie sich, nicht mehr nur zu diskutieren und zu schreiben, sondern aktiv zu werden: Fünf Millionen Europäer sollen am 13. Oktober die Stimme erheben gegen Nationalismus, für ein geeintes, demokratisches und solidarisches Europa.

Vier Wochen vor Stichtag sind es rund 30 Städte, die dem Aufruf “13-10” der beiden – und der 600 prominenten Erstunterzeichner des Aufrufs – folgen.

swissinfo.ch: Eine plumpe Frage zum Anfang: Warum sitzen wir hier und sprechen über Europa?

Jonas Lüscher: Weil die Lage dramatisch genug ist. Michael Zichy und ich, wir haben ein Ritual, dass wir alle zehn Tage telefonieren und uns die Köpfe heiss reden über die politische Lage. Und zusehends frustriert sind.

Da kam diese Idee auf, dass man einfach ein Zeichen setzen muss. Weil wir doch immer wieder zum selben Punkt gekommen sind: Wir haben nach wie vor den Eindruck, dass eine Mehrheit immer noch eine liberale Demokratie will und dieses Europa auch als Heimat betrachtet.

swissinfo.ch: Aber dieses Europa ist in Gefahr?

J.L.: Die Links-liberalen der Nachkriegs-Generationen konnten sich immer auf eines verlassen: Im Grunde genommen wird es doch besser. Wir müssen zwar für alles kämpfen, gegen Rechte und konservative Bürgerliche – man muss den Schwangerschaftsurlaub durchsetzen, man muss den Sozialstaat verteidigen, man muss für die gleichgeschlechtliche Ehe kämpfen. Aber sukzessive werden wir eine liberalere Gesellschaft. Dieses Selbstverständnis, diese Sicherheit, dass es schon irgendwie besser wird, das ist erschüttert – und zwar zu Recht.

swissinfo.ch: Und dieser Verunsicherung wollen sie Gegensteuer geben mit ihrem Aufruf zur europaweiten Demonstration am 13. Oktober.

Jonas Lüscher, aufgewachsen in Bern, studierte in München Philosophie.

2013 erhielt er für sein Debüt “Frühling der Barbaren” (2013) auf Anhieb den Zuspruch von Kritik und Leserschaft. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise variiert Lüscher die Verirrungen des Schweizer Fabrikerben und seiner dekadenten Verirrungen. Für dieses Debüt wurde er für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Für seinen zweiten Roman “Kraft” (2017) wurde er mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.

J.L.: Ja. Wenn man wieder ein solches Selbstbewusstsein schaffen könnte, dass eine liberale, eine sozialere, eine freiere und friedliche Gesellschaft möglich ist, und dieses Selbstbewusstsein auf die Strasse kriegen würde, wäre das ein Identifikationsangebot.

So könnte vielleicht dieser Verunsicherung entgegengewirkt werden. Indem die politische Mitte und die Linke auch wieder bereit ist, zu sagen: Wir sind doch handlungsfähig.

Es hat ja zu dieser grossen Verunsicherung geführt, dass den Leuten seit Jahren von Rechtspopulisten – und da hat die Linke teilweise mitgespielt – eingeimpft wird, dass wir im Grunde genommen nicht handlungsfähig sind, weil alles in der Hand der grossen Wirtschaft und der Globalisierung ist. Es ist auch immer wieder die Rede von einer Alternativlosigkeit von Entscheidungen. Das führt zu einem Gefühl der Machtlosigkeit.

swissinfo.ch: Sie haben gesagt, dass es viele sehr erleichterte und hoffnungsvolle Reaktionen auf ihren Aufruf gab, aber auch, dass “man dafür den Kopf herhalten muss”. Was verlangt es von Personen, die mehr oder weniger in der Öffentlichkeit stehen, sich für ein solches Anliegen einzusetzen?

J.L.: Die aktivistische Arbeit, die wir machen, ist natürlich im Grunde genommen “brunzlangweilig” und grauenhaft mühsam. Seit wir vor zwei Monaten angefangen haben, machen wir nichts Anderes, schreiben hunderte von Mails, wenn nicht Tausende, und es ist ein Fulltime-Job. Und dafür muss man sich natürlich entscheiden. Ich bewundere die Leute, die ihr Leben dem verschrieben haben. Da merke ich jetzt selber, wie beeindruckend das ist.

swissinfo.ch: Was ist denn so mühsam daran?

J.L.: Wir haben den Aufruf ganz bewusst offen und relativ vage formuliert. Weil wir gesagt haben: gegen Nationalismus, für ein geeintes, solidarisches Europa – noch nicht mal für die EU. Das ist doch der kleinste gemeinsame Nenner von ganz links bis weit, weit in die Mitte hinein, und sogar einen Grossteil der Konservativen kriegt man da.

Und dann sieht man, dass es da solche Vorbehalte gibt und jeder sein Süppchen kochen will. Da lag ich schon manchmal nachts im Bett und dachte, dass das alles so den Bach runtergehen wird. Wenn man sich schon darauf nicht einigen kann, wie soll es dann in Zukunft gehen.

swissinfo.ch: In über 30 Städten wird eine Demo stattfinden, das ist ja nicht wenig in so kurzer Zeit.

J.L.: Es zeigt, dass es funktionieren kann, dass es ein Bedürfnis gibt. Es hat noch keine Eigendynamik, und die muss es kriegen, damit es wirklich ein Erfolg wird. Interessanterweise setzt es sich in jenen Ländern am schnellsten fort, wo die Not am grössten ist. In Polen sind eben noch zwei dazugekommen, da sind es, glaube ich, sieben Städte.

swissinfo.ch: Wie geht die Schweiz damit um, wenn der Schweizer Schriftsteller, der in München zuhause ist, sich mit diesem Aufruf für ein geeintes Europa meldet? Wird es auch Demos geben?

J.L.: Ja, in Basel ganz sicher. Und in Zürich hat sich ein Bündnis gebildet – alle Zürcher Theater haben sich zum Beispiel zusammengetan, jetzt müssen noch die Berner aufwachen und die Genfer einsteigen.

Natürlich ist in der Schweiz der Druck nicht so gross. Alle atmen ein bisschen auf momentan, weil die Schweizerische Volkspartei (SVP) zum ersten Mal seit 30 Jahren rückläufige Zahlen hat. Aber ich habe auch das Gefühl, dass das Europa-Thema in der Schweiz gerade ein bisschen mehr diskutiert wird. Unter anderem lustigerweise wegen diesem einen Papier von Avenir Suisse.

Ich kann mich erinnern, als ich noch in der Schweiz gelebt habe, als Achtzehnjähriger oder so, da war es eine komplett vertretbare Meinung, für einen EU-Beitritt zu sein. Die gab es in den letzten zehn Jahren nicht mehr. Das war noch nicht mal mehr sagbar. Dieses Papier hat die Diskussion wieder angestossen.

swissinfo.ch: Wenn wir uns jetzt den 13.10. vorstellen, wie muss der aussehen, damit Sie sagen: Die tausenden Emails, Telefonate und die Diskussionen und Grabenkämpfe haben sich gelohnt?

J.L.: Wenn ein Gefühl der Solidarität entsteht, dann ist viel erreicht. Viel mehr kann man gar nicht erreichen. Ich glaube, dass es gerade für die Ungarn zum Beispiel wichtig ist, zu sehen, dass sie nicht alleine sind mit diesen ganzen Problemen. Da gibt es auch noch Leute in Spanien und in Norwegen, die dabei sind.

Das Lustige ist ja: Ich gehe gar nicht gern an Demonstrationen, überhaupt nicht. Die letzte war hier in München gegen das Polizeigesetz (am 10.5.2018, A.d.R..). Da war die Situation so übel, mit dem Kreuzerlass und dem Psychiatriegesetz, das gerade noch abgewendet wurde, und dem Polizeigesetz.

Da waren so viele und vor allem so unglaublich viele junge Leute auf der Strasse, und ich habe gemerkt, obschon ich normalerweise mit so einer Masse eher ein Problem habe: Es gibt doch Solidarität und Mitstreiter und Verbündete. Eigentlich ist das ein Begriff, den ich mag: dass man sieht, es gibt Verbündete.

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