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“Mission impossible” für “Super Mario”

Giovanni Barone-Adesi kennt den neuen EZB-Chef gut, den er eher als Staatsdiener denn als Bankier beschreibt. usi.ch

Mario Draghi, der neue und dritte Präsident der Europäischen Zentralbank, hat letzte Woche seine erste Sitzung geleitet. Neuer Chef, gleicher Stil, meint Professor Giovanni Barone-Adesi von der Universität Lugano und Ex-Studienkollege von Draghi.

Der oft “Super Mario” genannte neue Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) ist letzte Woche erstmals richtig auf dem internationalen Parkett aufgetreten.

An seiner Feuertaufe kündigte Mario Draghi gleich einen überraschenden Entscheid an: die Senkung des Zinsniveaus um 0,25 auf 1,25%. Die Massnahme hatte sofort einen sprunghaften Anstieg der Börsenkurse zur Folge.

Um mehr über Mario Draghi und seinen wahren Handlungsspielraum zu erfahren, hat sich swissinfo.ch mit dem Südschweizer Ökonomen Giovanni Barone-Adese unterhalten, der den neuen EZB-Chef persönlich gut kennt.

swissinfo.ch: Welche Auswirkungen auf die Schweiz könnte die Amtsübernahme von Mario Draghi an der Spitze der EZB haben?

Giovanni Barone-Adese: Ich denke, dass Mario Draghi die Politik seines Vorgängers Jean-Claude Trichet fortführt.

Ich gehe davon aus, dass die EZB ihre Politik aufrechterhält. Und da Philipp Hildebrand, der Direktor der Schweizerischen Nationalbank (SNB), den Franken an den Euro angebunden hat, haben wir keine Veränderungen zu erwarten. Zumindest so lange nicht, als diese Währungsanbindung aufrechterhalten wird.

Die europäische Währungspolitik ist jener der SNB ähnlich. Der grosse Unterschied liegt vor allem in den Schuldenkrisen, in denen sich mehrere Länder der Euro-Zone befinden.

swissinfo.ch: Italien hält den traurigen Rekord des höchsten Staatsdefizites von Europa (1900 Milliarden Euro). Ehrlich gesagt, ein Italiener an der Spitze der EZB, ist das eine gute Nachricht?

G.B.-A.: Es ist eher “keine Nachricht”. Wie ich schon sagte, wird Mario Draghi die bisherige Linie der EZB in der Substanz weiterverfolgen, eine Linie, die er übrigens glühend befürwortet.

Falls er überhaupt Veränderungen einführen möchte, kann er das kaum ganz allein entscheiden. Draghis Rolle ist eher jene eines Vermittlers zur politischen Welt. Eine Funktion, die er übrigens glänzend beherrscht.

swissinfo.ch: Wie sieht das Profil des “Bankiers” Mario Draghi aus?

G.B.-A.: Draghi ist mehr, wie man das nennt, ein “Staatsdiener” als ein Bankier. Er hat seine ganze Karriere im italienischen Staatsdienst gemacht. Ausser einer kurzen beruflichen Klammer bei der US-Geschäftsbank Goldman Sachs – er trat von seinem Amt als Direktor des italienischen Schatzamtes zurück, als Silvio Berlusconi erneut Regierungschef wurde – war Draghi immer ein hoher Beamter.

Im Gegensatz zu den meisten gewählten hohen italienischen Amtsträgern, die buchstäblich an ihren Sesseln kleben und Schwierigkeiten und Blockaden provozieren, wie man es aktuell wieder beobachten kann, ist Draghi freiwillig zurückgetreten.

Eine sehr korrekte Geste, die übrigens sehr geschätzt wurde, nicht zuletzt auch von Silvio Berlusconi. Danach wurde Draghi zum Chef der Banca d’Italia, der italienischen Zentralbank, ernannt.

Ich erinnere mich, dass Draghi die akademische Welt rasch verliess, um sich der öffentlichen Verwaltung zu widmen. Wie das übrigens auch sein Vater gemacht hatte, der ebenfalls Beamter bei der Banca d’Italia war.

swissinfo.ch: Er hat wenig Bankenerfahrung, war ein Staatsdiener. Ist er wirklich der Richtige für diese Situation?

G.B-A.: Die EZB ist eine Institution mit einem extrem engen Mandat. Ich glaube, dieses Mandat ist kaum geeignet für die gegenwärtigen Bedürfnisse Europas. Aber es ist sicher nicht die Institution selber, die ihre Regeln ändern kann. Es braucht eine politische Einigung, um etwas zu ändern.

Ich bin überzeugt, dass Mario Draghi gegenüber einer grösseren Öffnung dieser Institution, einem realistischeren Zugang zur derzeitigen Situation, nicht abgeneigt wäre. Zur Stunde ist das Motto aber: Strikte Geldpolitik und Sparsamkeit.

Mario Draghi wird sicher dieser Linie folgen, da die europäischen Staats-und Regierungschefs ihren Kurs nicht wechseln werden. Wissen Sie, sein Job gleicht in gewisser Weise einer “Mission Impossible”…

swissinfo.ch: Eine “Mission Impossible”, sagen Sie?

G.B-A.: Ich glaube, es ist praktisch unmöglich, Europa als solches zu retten, besonders was die Einheitswährung betrifft. Man sollte kostengünstige Mittel finden, um das Steuer herumzureissen, bevor die Situation zu chaotisch wird.

swissinfo.ch: Was wären die nötigen Änderungen?

G.B-A.: Entweder beendet Europa die Währungsunion und kehrt zu den alten Währungen zurück, oder sie gibt sich föderalistische Strukturen, die einen Finanzausgleich an ärmere Staaten ermöglichen – wie das in jedem Bundes- oder Einheitsstaat der Fall ist.

Das wäre besser, als hochverzinsliche Darlehen auszugeben, deren Kosten Staaten daran hindern, vorwärts zu kommen. Es ist eine Politik, welche die Wettbewerbslücke noch vergrössert, auf Kosten der verschuldeten Staaten.

Die beste Lösung wäre vermutlich, die Euro-Zone neu zu zeichnen und die Währungsunion nur noch zwischen den stärksten Volkswirtschaften zu behalten.

swissinfo.ch: Sie zeichnen ein ziemlich hoffnungsloses Bild…

G.B-A.: Ich fürchte, ja. Man sieht, dass die Märkte allen politischen Anstrengungen zum Trotz den Lösungen widersprechen, die angenommen und als definitiv präsentiert worden sind. Und das ist nicht das erste Mal, dass wir dieses Szenario beobachten.

Man muss sich der Realität stellen, bevor zu grosse Spannungen in Europa entstehen. Es müsste eine Möglichkeit geben, die Währungsunion aufzulösen, um dann zwei oder drei Währungen einzuführen, welche jene Länder mit ähnlicher Wirtschaftsentwicklung zusammenfassen.

Doch niemand will das in Angriff nehmen, weil sich alle politisch stark engagiert haben und das Gesicht nicht verlieren wollen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir noch mehrere Jahre leiden müssen.

swissinfo.ch: Mehrere Jahre?

G.B-A.: Ja, ich fürchte, das ist unvermeidlich. Es kann aber sein, dass es etwas rascher gehen wird, falls sich Griechenland entscheidet, den Euro aufzugeben und seine Schulden nicht zu bezahlen.

Giovanni Barone-Adesi ist italienisch-kanadischer Doppelbürger. Der verheiratete Familienvater lebt seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre im Kanton Tessin.

Barone-Adesi beendet seine Studien 1976 und bereitet sich auf ein Doktorat in den USA vor, als Mario Draghi gerade von dort zurückkehrt.

Die beiden Jungforscher werden von Romano Prodi, damals Wirtschaftsprofessor an der Universität Bologna, als Dozenten angestellt.

Während einem Jahr teilen sie gemeinsam ein Büro. Später arbeiten sie erneut zusammen, beim staatlichen italienischen Erdöl- und Energiekonzern ENI, für den sie mehrere gemeinsame Reisen unternehmen.

Während Barone-Adesi Europa in Richtung USA verlässt, tritt Draghi in den italienischen Staatsdienst ein, den er nur für eine kurze Zeit bei der Bank Goldman Sachs verlassen wird.

Heute ist Barone-Adesi Chef des Instituts für Finanzen an der Wirtschaftsfakultät der Universität der italienischen Schweiz in Lugano. Er lehrt dort seit 1998 Finanztheorie.

Geboren am 3. September 1947 in Rom.

Der ehemalige Spitzenfunktionär ist seit dem 1. November 2011 Chef der Europäischen Zentralbank (EZB). Sein Vorgänger war der Franzose Jean-Claude Trichet.

Draghi verfügt über ein Lizenziat in Betriebswirtschaft der Römer Universität “La Sapienza” und machte 1976 sein Doktorat in Wirtschaftswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Von 1991 bis 2001 war er Direktor des Schatzamtes und verantwortlich für Privatisierungen.

Von 1993 bis 2001 präsidierte er das Komitee für Privatisierungen. In dieser Funktion war er Vorstandsmitglied verschiedener Banken und Gesellschaften, die sich im Prozess der Privatisierung befanden (ENI, IRI, Banca Nazionale del Lavoro-BNL und IMI).

Von 2002 bis 2005 arbeitete er als Vizepräsident Europa der Bank Goldman Sachs, der viertgrössten Geschäftsbank der Welt.

Von 2006 bis 2011 war Draghi Gouverneur der Banca d’Italia, der italienischen Zentralbank.

Am 24. Juni 2011 nominierten die Staats- und Regierungschefs der europäischen Staaten Draghi formell zum Präsidenten der EZB.

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud und Christian Raaflaub)

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