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“Aus Verzweiflung” für den “Cavaliere”

Wahlen gewinnen heisst noch nicht das Land regieren können: Silvio Berlusconi zum dritten Mal an der Macht. swissinfo.ch

Unverblümt und ohne Illusionen kommentiert die Schweizer Presse den dritten Wahlsieg von Silvio Berlusconi in Italien. Die Grundfrage: Ob sich der "Antipolitiker" ausser Polit-Klamauk auch Reformen ins Pflichtenheft geschrieben habe?

“Italien ist ein verzweifeltes Land”, kommentiert der “Tages-Anzeiger” den Wahlsieg des “71-jährigen Polit-Zampanòs” Silvio Berlusconi.

Hatte das Land “die offensichtlichen Missstände lange hinter einer fröhlichen Fassade kaschiert, ist mit den stinkenden Abfallbergen, den vergifteten Lebensmitteln und der desolaten Wirtschaftslage das Versagen der Politik nicht länger zu leugnen”.

Der Sieg Berlusconis, so der “Tages-Anzeiger”, sei vor diesem Hintergrund zu sehen. Er habe sich immer als Antipolitiker gesehen und seine Verachtung für die staatlichen Institutionen gezeigt.

Seine Koalition von Separatisten der Lega Nord bis zu den erklärten Faschisten werde dazu führen, dass das Land nun noch mehr Polemik und Sonderpolitiken erleben werde.

“Europa kranker Mann”

Die Diagnose der italienischen Übel sei seit langem bekannt, kommentiert die “Neue Zürcher Zeitung”: “Italien braucht eine tiefgreifende Reform, die Institutionen, Verwaltung und Wirtschaft auf moderne Fundamente stellt.”

Doch fehle der Anstoss dazu, so die NZZ, obwohl es genügend Anlass dazu gäbe: Korruption, organisiertes Verbrechen, Talfahrt der Wirtschaft. Auch politisch sei das Veto gegen die Modernisierung zu spüren, egal, welche Regierung gerade an der Macht sei.

“Dass nun Berlusconi zum dritten Mal Ministerpräsident wird und eine Regierung mit den gleichen Koalitionspartnern bildet (…), lässt wirklich nichts Neues erwarten.”

Die NZZ fragt sich auch, ob Berlusconi als Regierungschef seine Bündnispartner disziplinieren könne. Die Wahlgewinne der Lega könnten diese zu einem “unbequemen Allierten” machen. Und ausserdem sei Berlusconi mit über 70 Jahren nicht mehr der Jüngste.

Andererseits habe sich der “Obama-Effekt”, auf den Berlusconis Gegenspieler Veltroni hoffte, nicht eingestellt. Zumindest aber habe sich die Gründung einer grossen Mitte-Links-Partei als ein richtiger Schritt erwiesen.

Es erfülle mit etwas Hoffnung, dass der “italienische Parteiendschungel” stark zurückgestutzt worden sei.

Zweifel angebracht

Wer vor einem halben Jahr vorausgesagt hätte, Berlusconi käme erneut, hätte sich lächerlich gemacht, kommentiert die “Basler Zeitung” (BaZ).

Der Medienzar erlebe nun seine Revanche, nachdem sich nach der Niederlage 2006 auch seine “damaligen Kronprinzen” Gianfranco Fini und Pierferdinando Casini verächtlich über ihn hergemacht hätten.

Doch, fragt sich die BaZ, was nun? “Dass er an der Macht vor allem an sich und seinesgleichen denkt, ist keine gute Voraussetzung für einen Neustart in einer für Italien dramatisch verschärften Situation.”

“Rekordhalter” Berlusconi

Seit 1994 sei der einstige Quereinsteiger Berlusconi die dominierende Figur auf der italienischen Politbühne, schreibt die “Berner Zeitung”.

Doch seine “Azienda Italia”, die der Medienmilliardär übernehme, sei noch nie so marode gewesen wie gerade jetzt.

Den Sieg aber habe Berlusconi die Übernahme der Strategie des Verlierers Veltroni gebracht: Dessen mittel-linker “kühner Alleingang” sei von Berlusconi kopiert worden – mit Erfolg.

Befund nach 14 Jahren Berlusconi: Seichte Witze und leere Versprechungen seien in Italien heute mehrheitsfähig.

Wahlsieg ist nicht Regieren

“Wahlen gewinnen ist eine Sache”, schreibt die Westschweizer “Le Temps”, “aber ein Land in der Krise regieren ist eine andere”.

Der Cavaliere habe seinen Sieg zu einem grossen Teil der wiedererstarkten Lega Nord zu verdanken – jener fremdenfeindlichen, anti-europäischen und sezessionistischen Bewegung im Norden des Landes.

Dieser Allierte von heute könnte sich schon morgen als Klotz am Bein erweisen, so “Le Temps”.

“La Liberté” spricht vom “Sieg der Ungläubigkeit”: “Das Resultat führt kaum zu Enthusiasmus. Besonders nicht seitens der Europäischen Union, die wegen der Schwäche einer ihrer historischen Säulen beunruhigt ist.”

Nach zwei Jahren Agonie

Die Mehrheit der Italiener habe in dieser Wahl zwei fundamentale Entscheide getroffen, schreibt der “Corriere del Ticino”: Erstens sei der Entscheid von einem verzweifelten Italien getroffen worden, frustriert von alten und neuen Übeln, und deshalb nicht wieder zu erkennen.

Berlusconi habe von der Agonie von Prodis Regierung und der Unfähigkeit von Mitte-Links profitiert und möchte jetzt einfach eine Regierung, die etwas tut.

Zweitens zeige der Entscheid, dass Italien ein bipolares, wenn auch vielleicht noch nicht ein Zwei-Parteien-System vorziehe.

swissinfo, Alexander Künzle

Silvio Berlusconi kehrt zum dritten Mal in den Palazzo Chigi zurück.

Die Mitte-Rechts-Koalition “Popolo della Libertà”, Lega Nord und Movimento per l’autonomia haben eine sichere Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und im Senat gewonnen.

“Popolo della Libertà” ist eine von Berlusconi im November 2007 gegründete neue politische Bewegung, die auf die aufgelöste “Casa della Libertà” folgt.

Das Mitte-Rechts-Bündnis kommt in der Kammer auf 46,6% der Stimmen, was 340 Sitzen entspricht.

Mitte-Links, angeführt von Walter Veltroni, der die Niederlage eingestanden hat, erhält 37,7% resp. 239 Sitze.

Noch klarer sind die Verhältnisse im Senat. Mitte-Rechts kommt auf 47,2% Wählerstimmen, der Partitio democratico auf 38,1%.

Die Italiener in der Schweiz haben bei den Wahlen klar Walter Veltronis Mitte-Links-Koalition “Partito Democratico” (Demokratische Partei) den Vorzug gegeben: Die PD kam gemäss den Schweizer Ergebnissen vom Dienstag im Abgeordnetenhaus auf rund 43% und im Senat auf über 46% der Stimmen.

Veltronis Verbündete von “Italia dei Valori” (Italien der Werte) kamen auf fast 10%.

Berlusconis Mitte-Rechts-Bündnis “Popolo della Libertà” (Volk der Freiheit) erhielt in beiden Kammern etwas über 30%.

Die italienischen Wahlberechtigten in der Schweiz sind traditionell eher links ausgerichtet.

In der Schweiz sind 389’000 Italienerinnen und Italiener wahlberechtigt. In Italien wurden insgesamt rund 1,2 Mio. Wahlzettel aus dem Ausland ausgezählt.

Seit 2006 stehen den Ausland-Italienern 12 der 630 Abgeordneten-Mandate und 6 der 315 Senatssitze zu.

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