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“Visa-Sperre für Libyer ist ein schlechtes Exempel”

Marcelo Kohen: "Das Ziel von Schengen ist eine koordinierte Visa-Politik und nicht ein Zweiklassensystem." Keystone

Es sei völlig falsch, Schengen im Libyen-Konflikt als politisches Instrument zu verwenden, sagt Marcelo Kohen, Professor für Internationales Recht am Genfer Graduate Institute of International and Development Studies, gegenüber swissinfo.ch.

swissinfo.ch: Wie ist der Entscheid der Schweiz, für Libyer ein Schengen-Einreiseverbot zu bewirken, vom rechtlichen Standpunkt aus einzuschätzen?

Marcelo Kohen: Das Visum eines Schengen-Landes gilt für den ganzen Schengen-Raum. Erteilt etwa Frankreich einem libyschen Bürger ein Visum, kann dieser in alle Schengen-Länder einreisen.

Es besteht jedoch eine Art Solidaritätsklausel: Jedes Schengen-Mitglied kann gegen Schengen-Visa ein Veto einlegen. Das ist das, was die Schweiz in Bezug auf Libyen getan hat.

swissinfo.ch: Dieses Vorgehen stösst namentlich bei Italien auf Kritik.

M.K.: Das Problem ist, dass aus einem bilateralen Konflikt ein regionaler Konflikt geworden ist: Bis anhin ging es um die Schweiz und Libyen, nun ist es ein Konflikt zwischen Libyen und ganz Schengen.

Im Schengen-Vertrag gibt es zwei verschiedene Arten von Visa: Schengen-Visa und nationale Visa. Letztere sind jedoch die Ausnahme. Ein Schengen-Land kann zwar sein Veto gegen Schengen-Visa einlegen, doch gleichzeitig kann jedes Mitglied jederzeit ein nationales Visum erteilen.

swissinfo.ch: Was ist der Kern dieses Konflikts?

M.K.: Die anderen Schengen-Länder wollen kein solches Zweiklassensystem. Das Ziel von Schengen ist eine koordinierte Visa-Politik. Ohne Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten fällt das System.

swissinfo.ch: Hält die Schweiz die Schengen-Länder in Geiselhaft, wie der italienische Aussenminister Franco Frattini ihr vorwirft?

M.K.: Meiner Ansicht führt die Schweizer Regierung im Libyen-Konflikt eine komplett falsche Politik. Leider hat der Bundesrat dem Druck gewisser politischer Kreise und so genannter Libyen-Kenner nicht widerstanden, die eine harte Linie forderten.

Mit dem Schengen-Veto setzte die Schweiz noch einen drauf. Sie verschlimmerte damit nur den Konflikt. Es ist völlig falsch, Schengen als politisches Instrument zu verwenden. Es ist ein schlechtes Exempel. Wenn alle Schengen-Länder das System so nutzen würden, wäre Schengen am Ende.

swissinfo.ch: Inwiefern üben die europäischen Länder gegenüber der Schweiz Druck aus?

M.K.: Indem sie sich mit der Schweiz nicht solidarisch zeigen und sagen: “Bitte löst den Konflikt mit Libyen auf andere Art.”

swissinfo.ch: Wie sind die Beziehungen zwischen der ehemaligen Kolonialmacht Italien und Libyen?

M.K.: Jedermann kennt den Charakter des libyschen Regimes. Und alle wissen, was der italienische Präsident Silvio Berlusconi alles unternommen hat, um die Beziehungen zu Libyen zu verbessern.

Libyen und die ehemalige Kolonialmacht Italien unterhalten heute gute Beziehungen – Geschäftsbeziehungen, versteht sich.

swissinfo.ch: Hätte die Schweiz die Hilfe von Italien und anderer europäischer Länder annehmen sollen, um mehr Druck auf Libyen auszuüben?

M.K.: Nein, ich denke nicht. Es ist nicht die Lösung, Druck auf Libyen auszuüben. Denn damit erreicht man bei Gaddafi nichts.

Manche sagen, man könne in der Libyen-Konflikt nur mit mehr Druck etwas bewegen. Und was hat man nun davon? Wir haben Probleme mit den europäischen Ländern – und der Libyen-Konflikt ist immer noch nicht gelöst.

Justin Häne, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Corinne Buchser)

15. Juli 2008: Hannibal Gaddafi und seine Frau Aline werden in einem Genfer Hotel festgenommen wegen Verdachts auf Misshandlung von Hausangestellten. Zwei Tage später werden sie gegen Kaution aus der Polizeihaft entlassen.

Juli 2008: In Libyen werden zwei Schweizer Geschäftsleute festgenommen wegen angeblicher Verstösse gegen Einwanderungs- und andere Gesetze.

Januar 2009: Ein Treffen von Bundesrätin Calmy-Rey mit dem Gaddafi-Sohn Saif al-Islam Gaddafi am WEF bringt keinen Durchbruch.

April 2009: Libyen und das Ehepaar Gaddafi reichen eine Zivilklage gegen den Kanton Genf ein.

Juni 2009: Libyen zieht die meisten seiner Gelder von Schweizer Bankkonten ab.

August 2009: Bundespräsident Hans-Rudolf Merz entschuldigt sich in Tripolis beim libyschen Regierungschef Al Mahmudi. In einem Vertrag will man die bilateralen Beziehungen wieder herstellen und ein Schiedsgericht einsetzen.

September 2009: Merz trifft Gaddafi in New York. Dieser versichert ihm, sich persönlich für die Freilassung der Festgehaltenen einsetzen.

Später werden die beiden Schweizer während einer ärztlichen Kontrolle an einen unbekannten Ort gebracht.


November: Der Bundesrat sistiert das Abkommen mit Libyen. Die restriktiven Visa-Massnahmen gegenüber Libyern bleiben. Die beiden Schweizer werden wieder auf die Botschaft in Tripolis gebracht.

Dezember: Die Beiden werden wegen Visavergehen zu je 16 Monaten Haft und rund 1600 Fr. Busse verurteilt. Später werden diese Urteile gemildert.

14. Februar 2010: 188 Libyer sind im Schengen-Computer-System auf der schwarzen Liste und erhalten kein Visum.

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