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“Wir alle sind Konsumenten, auch die Politiker”

Die Rechte der Konsumenten in der Schweiz hinken denen in der EU um rund 20 Jahre hintendrein, sagt Sara Stalder. SKS©Monika Flueckiger

Die Öffnung der internationalen Märkte macht die Konsumenten verwundbarer. Deren Schutz jedoch figuriert nicht auf der Prioritätenliste der Politiker, bedauert Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz.

Seit 2008 führt Sara Stalder die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS), die sich in der Deutschschweiz für die Konsumenten einsetzt. Zusammen mit ähnlichen Organisationen in den anderen Landesteilen verteidigt die SKS mit wenig Mitteln die Konsumentenrechte gegenüber der Wirtschaft, also gegenüber den Anbietern von Produkten und Dienstleistungen. 

Die Stiftung geniesst deshalb viel Unterstützung seitens der Bevölkerung. Die im Vorjahr in den Bundesrat gewählte Sozialdemokratin Simonetta Sommaruga wurde auch dank ihrem Engagement als ehemalige SKS-Geschäftsführerin  und Präsidentin zur populären Politikerin.

swissinfo.ch: Möchten auch Sie in die Fussstapfen von Simonetta Sommaruga treten?

Sara Stalder: Zur Zeit stelle ich mir diese Frage nicht. Denn meine Arbeit für die Stiftung befriedigt und beschäftigt mich vollauf. Zwar stehe ich oft in engem Kontakt mit Politikerinnen und Politikern. Aber im Moment habe ich keine solchen Aussichten.

swissinfo.ch: Weshalb sind Konsumfragen in den letzten Jahren derart populär geworden?

S.S.: Das Interesse begann mit den ersten Shopping Zentren in der Schweiz in den 60er- und 70er-Jahren. Damals entwickelte sich der Konsum zum Massenphänomen. Viele Konsumenten wurden sich bewusst, dass sie gegenüber der Macht der Hersteller und des Grosshandels oft wehrlos waren. Sie merkten ausserdem, dass sie sich nicht blind auf Produktebeschriebe und Verpackungs-Deklarationen verlassen konnten. Einige Produkte wirkten sogar schädlich. 

Auch darf nicht vergessen werden, dass heute der Konsumentenschutz die ganze Bevölkerung etwas angeht. Denn alle konsumieren, auch die Produzenten oder die wirtschaftlichen und politischen Akteure.

swissinfo.ch: Der Konsumentenschutz ist wohl einer der wenigen Sektoren, der alle politischen, regionalen oder kulturellen Gräben in der Schweiz überwindet.

S.S.: Die Fragen der Konsumierenden sind in der gesamten Bevölkerung praktisch dieselben, mit kleinen regionalen Unterschieden. Wer Opfer unfairer Vertragsbedingungen wird, ärgert sich in der Deutschschweiz genauso wie in den anderen Landesteilen. Der Konsumentenschutz passt nicht einmal in das übliche Polit-Schema, das rechts und links trennt. Es geht in erster Linie um das Bewusstsein der Rechte als Konsument und Bürger.

swissinfo.ch: Konsumentenschutz-Themen stossen in der Bevölkerung auf ein grosses Echo. Weshalb figurieren sie nicht in der Prioritätenliste der Politiker?

S.S.: Wahrlich ein erstaunlicher Umstand! Als sich die Märkte der Europäischen Union zu öffnen begannen, begriffen die Politiker der Länder Europas, dass es nötig wurde, die Rechte der Konsumenten zu verbessern. Eigentlich logisch: Je grösser der Markt, desto grösser das Risiko, an Produkte zu gelangen, deren Ursprung unklar bleibt und deren Sicherheits- oder Zuverlässigkeitsnormen nicht respektiert sind. 

Wir können nicht verstehen, weshalb Schweizer Politikern diese Sicht der Dinge noch nicht geläufig ist. Während sich die Märkte bei uns auch geöffnet haben, bleiben die Konsumentenrechte auf demselben Niveau wie vor zwanzig Jahren.

swissinfo.ch: Ist die Schweiz demnach ein Entwicklungsland in Sachen Konsumentenrechte?

S.S.: Ja. Und das ist schade. Denn noch vor zwanzig Jahren galt die Schweiz in diesem Bereich als Bezugspunkt. Verschiedene europäische Länder beriefen sich auf die schweizerische Rechtssprechung, wenn es galt, im eigenen Land schwierige Rechtsfälle zu lösen.

Heute ist das deutlich weniger der Fall, denn unsere Rechtssprechung ist veraltet. Das gilt besonders für die Bereiche Tarifabkommen, Haftung, Vertragsrecht und Garantienormen. So dürfen beispielsweise in der Schweiz Hersteller die Garantiedauer für ihre Produkte auf nur einen Monat beschränken oder ganz wegbedingen, während die EU-Normen ein Minimum von zwei Jahren vorschreiben. 

swissinfo.ch: Gegen einen besseren Konsumentenschutz stellen sich im Allgemeinen die mit der Wirtschaft verbundenen Parlamentarier. Ist es nicht möglich, Wirtschafts- und Konsumenteninteressen unter einen Hut zu bringen?

S.S.: Doch, möglich ist es, obschon in der Schweiz viele Politiker es nicht wahrhaben wollen. In der EU ist dieser Paradigmenwechsel zu einem guten Teil bereits eingetreten: Die Märkte funktionieren besser, wenn die Konsumentenrechte respektiert werden und die Regeln klar sind. Konsumenten, die der Wirtschaft und dem Handel vertrauen, sind gute Konsumenten.

swissinfo.ch: Welches sind die Erwartungen der Allianz der Konsumentenschutzorganisationen bezüglich der kommenden Wahlen?

S.S.: Wir erwarten insbesondere, dass das kommende Parlament die Märkte derart einrichtet, dass sie für Konsumenten sicherer und transparenter werden. Aus diesem Grund haben wir eine Charta der Konsumentenanliegen vorbereitet, die wir allen Kandidierenden vorlegen. Jene, die unterschreiben, verpflichten sich, während der Legislatur die Rechte der Konsumenten zu verteidigen.

Wir sind uns aber im Klaren, dass wir im Parlament keine so starke Lobby auffahren können wie die Wirtschaft, die ganz andere Finanzquellen zur Verfügung hat.

swissinfo.ch: Haben sich Ihre politischen Ansichten geändert, seit Sie für die Stiftung tätig sind?

S.S.: Einerseits ist mir aufgefallen, dass zahlreiche Politiker ihre Arbeit dynamisch angehen und dass in der Schweiz die Entscheide, einmal gefasst, üblicherweise auch umgesetzt werden.

Andererseits habe ich als ehemalige Lehrerin festgestellt, dass das Image des Parlamentariers, wie man es vom Lehrbuch her kennt, mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Viele Politiker vertreten eher die Interessen der Wirtschaft als jene des Volks.

Eines Tages möchte ich ein Lehrmittel verfassen, worin erklärt wird, wie die Macht der Lobbyisten die Gesetzgebung in der Schweiz beeinflusst.

Geboren 1966 in Dürrenroth, Bern, arbeitete Sara Stalder als Primarlehrerin und Schulleiterin. Sie bildete sich weiter für Schulleitung-Management und Betriebswirtschaft.

Nach zwei Jahrzehnten Schuldienst fand Sara Stalder bei der SKS als Geschäftsführerin eine neue Herausforderung.

Verheiratet und Mutter dreier Kinder, lebt sie in Sumiswald im Kanton Bern.

Die Stiftung für Konsumentenschutz wurde 1964 gegründet.

Sie ist die grösste Konsumentenschutz-Organisation der Deutschschweiz und der Schweiz.

Die SKS veröffentlichte bereits 1964 Produktetests.

Sie definiert sich als unabhängig, breit abgestützt und “ohne zweifelhafte Allianzen”, ist in der Deutschschweiz aktiv und erwirtschaftet jährlich im Durchschnitt 1,2 Mio. Franken.

Rund 21’000 Gönner unterstützen die SKS mit einem Jahresbeitrag, was 60% des Jahresbudgets ausmacht. Der Bund steuert 15% bei.

Mit Blick auf die Parlamentswahlen vom kommenden Oktober hat die Allianz der Konsumentenschutz-Organisationen eine Charta mit den wichtigsten Konsumenten-Anliegen vorgestellt.

Laut der Allianz fehlt es an politischem Willen, die Konsumentenrechte in der Schweiz zu stärken.

Alle Kandidierenden der National- und Ständeratswahlen haben die Gelegenheit, das Dokument zu unterzeichnen.

Vor dem Wahltermin wird bekannt gegeben, wer die Charta unterzeichnet hat. Dies soll der Bevölkerung eine Hilfe geben, für wen sie sich entscheiden wollen.

Die Charta sieht Verbesserungen in folgenden Bereichen vor: Konsumverträge, Finanzdienstleistungen, digitale Welt und Telekommunikation, Gesundheit, Produkte- und Lebensmittelsicherheit, Ernährung, Energie und Nachhaltigkeit sowie Sammelklagen.

Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle

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