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Anti-Staugebühr: Wer die Stadt verstopft, bezahlt

Ab dem C wird bezahlt: Dank Innenstadt-Gebühr fahren 30% weniger Autos in die Londoner City. Keystone

Nach dem unerwarteten Erfolg in London ist das Road Pricing, die Gebühr gegen Stau in den Innenstädten, auch in der Schweiz vermehrt ein Thema.

Weil die Bundesverfassung Strassenzölle verbietet, setzen Verkehrs-Experten auf einen Pilotversuch.

Stau-, Anti-Stau- oder Innenstadt-Gebühr, City Maut, Road Pricing: Das marktwirtschaftliche Instrument gegen den Verkehrskollaps in den Städten trägt viele Namen.

Die Funktion aber ist immer dieselbe: Wer mit dem Auto einen definierten Stadtbereich befährt, also Stau sowie Lärm- und Umweltbelastung verursacht, muss dafür zum Geldbeutel greifen.

Eindrückliche Zahlen

Die Innenstadt-Gebühr tönt nicht nur einfach, sie ist auch effektiv, wie das Beispiel Londons zeigt. Bürgermeister Ken Livingstone konnte nach einem Jahr der in London “Congestion Charge” genannten Gebühr einen Rückgang des Verkehrs in der City um 30% verkünden.

Pro Tag sind es rund 70’000 Fahrzeuge weniger, welche die Innenstadt von Swinging London verstinken und verstopfen. Es sind aber immer noch 110’000 Autofahrer, die täglich die 5 britischen Pfund (rund 12 Schweizer Franken) entrichten. Die Einnahmen, 68 Mio. Pfund (rund 155 Mio. Franken), steckte Livingstone vollumfänglich in den öffentlichen Verkehr.

Nach diesem Erfolg, der Skeptiker wie Befürworter gleichermassen überraschte, liegt es auf der Hand, dass Road Pricing auch in der Schweiz stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt. “Durch eine Road-Pricing-Abgabe können bisher ungedeckte Kosten den einzelnen Verkehrsteilnehmern verursachergerecht angelastet werden”, hebt Adrian Schmid, Leiter Verkehrspolitik des Verkehrs-Club der Schweiz (VCS), hervor.

Pragmatismus…

Schmid setzt auf einen Pilotversuch, wie er gegenüber swissinfo sagt: “Es müsste evaluiert werden, wo ein solcher Versuch stattfinden soll: Kommt eher ein Grossraum wie Zürich oder Genf in Frage, und wäre eine mittelgrosse Stadt wie Luzern schon zu klein?”

Offen sei ebenfalls die Frage der Finanzierung. Klar für Schmid ist aber, dass ein solches Projekt wissenschaftlich und politisch begleitet werden muss, um Grundlagen für die weitere Praxis zu schaffen.

Schmid liegt es fern, im Road Pricing “die einzige Lösung” der Verkehrsüberlastung in Schweizer Städten und Agglomerationen zu sehen. “Ich möchte vielmehr eine breite Diskussion darüber in Gang setzen, das auch unter dem demokratierechtlichen Aspekt.”

…statt Verfassungsänderung

Um ein Road Pricing generell einzuführen, müsste die Bundesverfassung geändert werden. Denn sie schreibt ein Verbot zur Erhebung von Strassengebühren fest.

“Eine solche Revision hat aber momentan in der Schweiz keine realistische Chance”, schätzt Markus Liechti, Projektmanager bei Transport and Environment. Der Dachverband von 24 europäischen Umwelt-Organisationen lobbyiert in Brüssel dafür, dass Road Pricing zum festen Bestandteil der verkehrspolitische Agenda der Europäischen Union wird.

Wie für Schmid steht auch bei Liechti Pragmatismus im Vordergrund: “Eine versuchsweise Einführung, am besten durch das Umweltministerium, würde zweifellos positive Resultate zeigen, und damit hätte es eine Verfassungsänderung einfacher.”

“Ja, aber” bei den Städten

Der Schweizer Städteverband (SSV) würde einem Pilotversuch, der vom Bund mit Ausnahmebewilligungen ermöglicht werden kann, keine Steine in den Weg legen. Ein “flächendeckendes” Road Pricing steht für Direktor Urs Geissmann aber nicht zur Debatte.

Die fehlende Verfassungs-Grundlage ist ein Grund. Der andere: “Road Pricing auf dem jetzigen Stand ist mittelfristig kein geeignetes Finanzierungsmittel für den Agglomerationsverkehr”, so Geissmann. Denn nach dem Volks-Nein zur Avanti-Vorlage vom vergangenen Februar steht beim SSV immer noch die Finanzierung des Agglomerations-Verkehrs im Vordergrund.

Neues System nötig

Sollte die Verfassungs-Hürde genommen werden, müsste laut Geissmann das Gefüge der Lenkungsabgaben neu austariert werden: “Treibstoffzoll-Abgaben, Motorfahrzeugsteuern und Autobahnvignette müssten dem Road Pricing angepasst, also komplett neu gestaltet werden.”

Zwei Knackpunkte sind es, die laut Geissmann mit dem Road Pricing verbunden sind. Einerseits müssten alle Zufahrtsstrassen erfasst sein, um Umlagerungseffekte auf Quartierstrassen auszuschliessen.

Andererseits geht es um die Frage nach den räumlichen Grenzen, ab wo bezahlt werden muss. “Ist es die Innenstadt, die Stadtgrenze oder die Agglomeration?”, so Geissmann. Schweizer Städte würden ja nicht die eigentliche Kernstadt-Charakteristik aufweisen, sondern bestünden zu grossen Teilen aus den Agglomerationen.

Keine Chance beim TCS

Klar Nein sagt der Automobil-Verband Touring Club Schweiz (TCS), der das Road Pricing als “unsoziale Strassen-Benützungsgebühr” ablehnt. Strassenzölle seien verfassungswidrig und ungerecht.

“So würde die Einführung des Road Pricing nach dem Londoner Modell jeden in die Stadt fahrenden Automobilisten zusätzlich mit rund 3000 Franken pro Jahr belasten”, heisst es im TCS-Positionspapier.

Bestätigt sieht sich der TCS vom Entscheid des bernischen Grossen Rates, der im April eine Standesinitiative der Kantons-Regierung bachab geschickt hatte. Deren Ziel: Die Aufhebung des Strassenzollverbots in der Bundesverfassung.

Auf eidgenössischer Ebene hat das Parlament die Einführung eines generellen Road-Pricings mehrfach abgelehnt, das letzte Mal 2003.

Puls der Bürger messen

Trotz der negativen Signale auf dem politischen Parkett ist das Thema alles andere als vom Tisch. TA-Swiss, das schweizerische Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung, hat für August und September mehrere öffentliche Hearings, publifocus genannt, angesetzt.

Experten, Vertreter von Bundesämtern und Bürger sollen dabei Aspekte rund um das Road Pricing in der Schweiz klären. Beispielsweise, weshalb Autofahrer bereit sind, für einen Parkplatz, nicht aber für die Benützung einer Strasse eine Gebühr zu entrichten.

swissinfo, Renat Künzi

Führend im Road Pricing sind England, Singapur und Skandinavien.
Städte mit Road Pricing: Singapur (1975), Bergen (1986), London (2003) und Stockholm (ab Juni 2005 bis Juli 2006, danach Volksabstimmung).
Road Pricing geplant in: Edinburgh, Cardiff, Bristol, Manchester, Barcelona, Mailand, Paris, Berlin.

Die Anti-Staugebühr für London kostet 5 Pfund (12 Franken). Sie kann am Kiosk oder via Internet oder SMS bezahlt werden.

Seit Einführung der Gebühr hat der Londoner Verkehr um 30% abgenommen.

Die Autonummern werden mit Kameras erfasst. Wer nicht bezahlt, erhält eine Busse von 80 Pfund (183 Franken).

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