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Arbeitsmarkt als Spielball der Einwanderungsdebatte

Im Stellenanzeiger 'Alpha' werden viele freie Kaderstellen publiziert. Keystone

Für die einen ist die Personenfreizügigkeit der grosse Treiber des Schweizer Arbeitsmarktes, für die anderen ein "Grössenwahnprojekt", Dritte warnen vor einem künftigen Arbeitskräfte-Mangel. Die Einwanderungsdebatte wirft entsprechend hohe politische Wellen.

Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 sind in der Schweiz 286’300 neue Vollzeitstellen geschaffen worden. Rund 85% davon (243’900) sind laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) im Dienstleistungssektor entstanden, am meisten im Gesundheits- und Sozialwesen. Im Industrie- und Baugewerbesektor hat vor allem die Bauwirtschaft neue Jobs geschaffen (35’200 Vollzeitstellen).

Die Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz ist gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung des BFS zwischen 2003 und 2009 netto um 8% gestiegen. Kennzeichnend für die ganze Entwicklung ist der Trend in Richtung Arbeitsplätze mit hoher Qualifikationsanforderung.

Von den 159’000 Ausländern, die seit 2003 zusätzlich in der Schweiz arbeiten, sind 78% hoch qualifiziert. Und neu im Arbeitsprozess stehen auch 281’000 hoch qualifizierte Schweizer, vor allem dank Weiterbildung.

Segen…

Die Zuwanderung aus den EU/Efta-Staaten habe die Schweizer Konjunktur während der Rezession gestützt, schreiben die Experten in dem am Donnerstag veröffentlichten 7. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen der zuständigen Bundesämter und des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Denn die Zugewanderten liessen die Konsumausgaben ansteigen und stimulierten die Bauinvestitionen. Deshalb sei der wirtschaftliche Einbruch im Jahr 2009 in der Schweiz moderater ausgefallen als im Ausland.

Die Schweiz hat mit ihren 7,7 Millionen Einwohnern gleich nach Luxemburg und Liechtenstein zwar den höchsten Anteil von Ausländern an der Wohnbevölkerung (22,9% haben keinen Schweizer Pass) in Europa, wovon zwei Drittel davon aus dem EU/Efta-Raum stammen. Aber der Observatoriumsbericht zeigt, dass die gestiegene Zahl der gut ausgebildeten Zuwanderer keine Bedrohung für Schweizer Arbeitskräfte darstellt. Obwohl die Konkurrenz durch Zuwanderer insgesamt angestiegen sei, hätten diese die ansässige Bevölkerung nicht aus dem Erwerbsleben gedrängt, heisst es.

Zudem ist trotz Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit in der Schweiz im europäischen Vergleich mit rund 4,5% weiterhin niedrig. Dabei liegt für die Schweizer Arbeitnehmer die proportionale Quote bei 3,1% gegenüber 7,2% arbeitslosen Ausländern.

…oder Fluch?

Dennoch machen sich viele Schweizerinnen und Schweizer grosse Sorgen über die Folgen der Personenfreizügigkeit auf dem Immobilienmarkt (steigende Preise, steigende Mieten), für die Belastung der Infrastrukturen oder im gesellschaftlichen Bereich. Auch die Angst, dass die Personenfreizügigkeit trotz flankierenden Massnahmen zu Lohndumping missbraucht werden kann, wie das jüngst das Seco bestätigte (Zunahme der Anzahl aufgedeckter Fälle), ist nachvollziehbar.

Die Probleme werden auch von linken Befürwortern der Personenfreizügigkeit, wie Gewerkschaften und Sozialdemokraten, deutlich angesprochen. Verlangt werden insbesondere schärfere flankierende Massnahmen.

SVP-Initiative als Wahlkampfthema

Viel weiter geht die Schweizerische Volkspartei (SVP), welche die Personenfreizügigkeit zum Wahlkampfthema machen will. Weil die Schweiz die Kontrolle über die Zuwanderung verloren habe, müsse ihr “die Handlungsfreiheit” zurückgegeben werden, sagte Parteipräsident Toni Brunner Anfang Woche bei der Ankündigung der “Begrenzungsinitiative” vor den Medien.

Konkret möchte die SVP eine Kontingentierung der Zuwanderung einführen, die auch für das Asylrecht gelten würde. Ohne fixe Vorgabe soll der Bundesrat jedes Jahr über die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen entscheiden.

Wenn die Initiative erfolgreich sein sollte, hätte dies Neuverhandlungen mit der EU über den freien Personenverkehr zur Folge. Wenn das die EU nicht wolle, “dann kann man Verträge auch jederzeit kündigen”, sagte SVP-Parteistratege Christoph Blocher vor den Medien. Für ein so kleines Land wie die Schweiz sei das Abkommen ein “Grössenwahnprojekt”.

Warnung vor Arbeitskräfte-Mangel

Trotz Zuwanderung zu wenig Pflegefachleute, zu wenig Lehrerinnen und Lehrer, zu wenig Polizisten: Der Arbeitnehmer-Dachverband Travail.Suisse seinerseits warnt auf Grund einer Studie vor einem Arbeitskräfte-Notstand in der Schweiz.

Das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) untersuchte Nachfrage und Angebot an Arbeitskräften sowie die Auswirkungen möglicher Massnahmen. Aufgrund eines realen Wachstums von 1% und Annahmen zur Bevölkerungsentwicklung geht Bass von mehr als 400’000 unbesetzten Stellen im Jahr 2030 aus, sofern keine Gegenmassnahmen ergriffen werden.

Grund für den Notstand sei nicht die Überalterung der Gesellschaft, sondern der fehlende Nachwuchs, hiess es an einer Medienkonferenz des Arbeitnehmer-Dachverbands Travail.Suisse in Bern. Um ohne Einwanderung einen Notstand zu verhindern, brauche die Schweiz einen Demografie tauglichen Arbeitsmarkt.

Beruf und Familie vereinbaren

Laut der Bass-Studie könnten etwa die Hälfte der 2030 freien Stellen vergeben werden, wenn sich weniger Menschen früher pensionieren liessen und Frauen vermehrt ausser Haus arbeiteten.

Travail.Suisse fordert deshalb mehr Investitionen in Bildung und Gesundheit und auch Verbesserungen in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Insbesondere mehr Teilzeitstellen, Betreuungseinrichtungen für Kinder und die Pflicht zur Weiterbildung.

Eine Studie der Forschungsstelle für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomik (FAI) der Universität Basel zeigt, dass die EU-17/Efta-Staatsangehörigen von allen Ausländergruppen am besten in den Schweizer Arbeitsmarkt integriert sind.

Sie sind überdurchschnittlich erwerbstätig und weisen nach den Schweizer Arbeitskräften die niedrigste Arbeitslosenquote auf.

Die Studie kommt zudem zum Schluss, dass das Freizügigkeitsabkommen keinen massgeblichen Effekt auf die Löhne und Arbeitslosigkeit der inländischen Erwerbsbevölkerung hatte.

Die Umweltschutz-Organisation Ecopop will mit einer Initiative in der Verfassung verankern, dass die jährliche Einwanderung in die Schweiz nicht mehr als 0,2% der Gesamtbevölkerung ausmacht.

Zudem will Ecopop den Bund verpflichten, bei der internationalen Entwicklungshilfe mehr Mittel in Projekte für freiwillige Familienplanung zu investieren.

Eine sich in der Vorprüfung bei der Bundeskanzlei befindende Initiative der Schweizer Demokraten verlangt, dass der jährliche Wanderungssaldo der Schweiz ausgeglichen ist.

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