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Bilateralismus nicht ideal, aber praktikabel

EU-Botschafter Michael Reiterer neben Aussenministerin Micheline Calmy-Rey am Europa Forum Luzern. Keystone

Vor der kommenden Volksabstimmung im nächsten Februar um die Ausweitung der Personenfreizügigkeit steigt die Spannung um die Frage des Bilateralismus. Er habe sich seit dem EWR-Nein 1992 bewährt, hiess es am Europa Forum Luzern – aber wie lange noch?

Die jüngste Finanzkrise habe kleinen europäischen Ländern ausserhalb der EU drastisch aufgezeigt, dass Alleingänge in schwierigen Zeiten auch eine gewisse Einsamkeit nach sich zögen, sagte EU-Botschafter Michael Reiterer Anfang Woche in Luzern.

Island, Ungarn, Dänemark oder sogar das grosse Polen wären in den letzten Wochen, als ihre Währungen unter Druck gerieten, liebend gern in der Euro-Zone gewesen, vermutet Reiterer.

Und auch die Schweiz sei in der jüngsten Libyen-Krise ziemlich einsam dagestanden.

Souveränität kontra Handlungsspielraum

Mit diesen Beispielen versuchte Reiterer am Europa Forum Luzern eine der grossen Ängste zu relativieren, die in rechtskonservativen Schweizer Kreisen rund um die Integrations- oder Europa-Frage dominiert: Muss die Schweiz im Falle eines Näherrückens an die EU Souveränität aufgeben? Oder gewinnt sie, wie weniger integrationskritische Kreise glauben, Handlungsspielraum dazu?

“Habe ich mehr Souveränität, wenn ich glaube, meine eigene auszunützen, oder wenn ich sie in einen Pool einbringe?”, fragte Reiterer. Man gebe ja seine Souveränität in der EU nicht an der Garderobe ab, sondern man versuche, sie einzubringen, um gemeinsam stärker zu sein.

Ganz anders sieht das Nationalrat Pirmin Schwander. Der Politiker der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Präsident der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS): “Ich bin eigentlich schockiert von diesem Anlass. Man sagt hier, der bilaterale Weg sei die einzige Option, und falls es im Februar ein Nein gebe, passiere etwas Schlimmes.”

So dürfe man doch nicht dramatisieren, sagte Schwander: “Einerseits Partnerschaft, anderseits Schreckens-Szenario.”

Nicht mehr Nein-Sagen können…

Auch der deutsche Finanzminister drohe der Schweiz, und er könne dies nicht auf die leichte Schulter nehmen – besonders wenn die Frage im Raum stehe, wie es mit den Bilateralen weitergehen solle.

“Seien wir doch ehrlich gegenüber dem Stimmvolk. Wenn wir innerhalb des bilateralen Wegs nicht mehr Nein sagen können, dann wäre es wohl besser, gleich über den EU-Beitritt selbst zu diskutieren”, sagte Schwander.

“Wir haben innerhalb des bilateralen Weges sehr wohl die Freiheit, Nein sagen zu können”, entgegnete die freisinnige Nationalrätin Christa Markwalder, Präsidentin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS). “Wir müssen uns einfach der Konsequenzen bewusst sein.”

Und wenn nun aufgezeigt werde, was die Personenfreizügigkeit und die bilateralen Verträge bisher gebracht hätten, kläre sich eben auch, was bei einem Nein im kommenden Februar auf dem Spiel stehe: Unter anderem Wohlstand, Sicherheit, Arbeitsplätze oder Zugang zu europäischen Märkten.

Aufzuzeigen, dass diese Errungenschaften auf dem Spiel stünden, heisse noch lange nicht mit Schlimmem drohen.

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“Taktisch gesicherte” Volksabstimmungen

Mit dem pragmatischen Bilateralismus habe der Bundesrat nach dem EWR-Nein des Schweizer Volks 1992 einen bisher gangbaren Weg praktiziert, um die Schweiz Europas Märkten und Institutionen näher zu bringen, so Matthias Saxer, Inlandchef der Neuen Zürcher Zeitung, ohne die Rechte und Vorteile der direkten Demokratie aufs Spiel zu setzen.

Andererseits, bemängelte er, würden die Behörden die Volksabstimmungen rund um die Bilateralen “taktisch sichern, um ein Unglück auszuschliessen”. Saxer wirft den Behörden vor, bei den Vorlagen über die Bilateralen mit dem Stimmvolk situativ zurückhaltend umzugehen, sogar zu “tricksen”.

“Am 8. Februar stimmen wir bekanntlich in einer Kombi-Vorlage gleichzeitig über die Weiterführung der Personenfreizügigkeit und über ihre Ausdehnung auf neue EU-Staaten ab.”

Früher habe man das anders gelesen, so Saxer: “Als es vor neun Jahren um die bilateralen Verträge ging, gestanden Bundesrat und Parlament dem Volk zu, dass es in sieben Jahren nach Inkrafttreten der Bilateralen 1, also 2009, in Kenntnis der Sachlage noch einmal über die besonders heikle Personenfreizügigkeit mit den alten EU-Staaten abstimmen könne, wenn es dies will.”

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Bilaterale Abkommen

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Misstrauen der Behörden

Das hätte aber zwei getrennte Vorlagen bedingt. “Doch die Christlich-demokratische Volkspartei und Rot/Grün machten aus dem zufällig zeitlichen Zusammenfall der beiden Vorlagen eine Einheit der Materie”, kritisiert Saxer.

Dem Stimmbürger werde also im Februar nur noch ein “Päckli”, respektive die Wahl zwischen Allem oder Nichts zugestanden. “Dieses Misstrauen seiner Behörden hat das Stimmvolk gar nicht verdient.”

Denn die Schweiz habe laut Saxer als Nicht-EU-Mitglied das geschafft, was alle EU-Staaten tunlichst vermieden hätten: Nämlich basisdemokratisch der Ausdehnung der EU zugestimmt und dafür auch noch Geld für Kohäsionszahlungen gutgeheissen.

swissinfo, Alexander Künzle, Luzern

Das Europa Forum Luzern hat sich seit 1996 schweizweit zur bedeutendsten Veranstaltung über Europafragen entwickelt.

Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland treten im Dialog zu den Themen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik auf.

Das nächste Europa Forum Luzern findet Ende April 2009 statt. Thema: Zukunft Energie – die europäische Herausforderung.

Ein Grund für den Bilateralismus der Schweiz sind die Interessen des Finanzplatzes und das Bankgeheimnis.

Die Schweiz muss sich von der EU und der OECD vorwerfen lassen, ein Steuerparadies zu sein.

In einem der bilateralen Verträge ist seit 2005 das Zinsbesteuerungs-Abkommen in Kraft. Dabei geben die Schweizer Behörden den Grossteil einer Zinsertagssteuer auf ausländische Gelder auf Schweizer Konten von ausländischen Privatpersonen an die entsprechenden EU-Länder zurück.

Am Europa Forum Luzern war nun die Rede davon, dass diese Art der Zinsbesteuerung auch auf ausländische juristische Personen, das heisst, auf Unternehmen, Stiftungen und Fonds ausgeweitet werden könnte.

Auch Aussenministerin Micheline Calmy-Rey hat Anfang Woche am Europa Forum Luzern den bilateralen Weg gelobt.

Die Meinung, die EU würde die bestehenden bilateralen Verträge im Falle eines Volks-Nein zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit nicht kündigen, sei ein Missverständnis, so Calmy-Rey.

Es brauche gar keine Kündigung mehr. Denn in den Verträgen steht bereits, dass ein Nein die gesamten bilateralen Verträge ausser Kraft setze.

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