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Brüssel weicht von der Schiene ab

Die Nord-Südachse: Ein überlasteter Korridor. Keystone

Noch vor 5 Jahren war die Verlagerung von der Strasse auf die Schiene das erklärte Ziel der EU-Kommission. Nun will sie nur noch auf Hauptachsen – dazu gehören die Korridore im Alpenraum - verlagern.

Deshalb wirkt sich der Kurswechsel in der EU-Verkehrspolitik nicht auf die Schweiz aus.

Die Halbzeitbilanz zur EU-Verkehrspolitik bis 2010, die gestern in Brüssel vorgestellt wurde, hatte im Vorfeld hohe Wellen geworfen. Denn man hatte allgemein erwartet, dass Brüssel das Ziel aufgibt, den Warentransport auf die Schiene zu verlagern. Österreichische Gegner des Strassentransits hatten vorsorglich bereits mit Blockaden am Brennerpass gedroht.

Doch hinter den Kulissen schwächte die EU-Kommission den Bericht in den vergangenen Wochen und Tagen stark ab. EU-Verkehrskommissar Jacques Barrot beendete gestern den Weichspülprozess mit einer unverbindlichen Grundsatzrede. “Jeder Verkehrsträger hat seine Stärken, die wir in Zukunft noch verbessern wollen”, sagte er.

“Lastwagen können Kunden flexibel beliefern, die Bahn ist für lange Strecken geeignet, und Flugzeuge ermöglichen uns den Anschluss an die Welt. “Man gebe die Verlagerung hin zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln keineswegs auf, beteuerte Barrot: “Wir schlagen nur flexiblere Werkzeuge vor, um das Ziel zu erreichen.”

Die Verkehrsprognosen im Bericht zeigen allerdings gerade das Gegenteil: Die EU-Kommission erwartet, dass der Warentransport auf der Strasse bis 2020 um 55% zunehmen wird, auf der Schiene aber bloss um 13%.

Alpentransit: überlastete Korridore

Im Personenverkehr kann die Luftfahrt mit mehr als einer Verdoppelung rechnen, die Eisenbahnen legen aber nur um knapp einen Fünftel zu. Die Verlagerung würde also gerade verkehrt laufen: Umweltfreundlichere Verkehrsmittel verlören Marktanteile zugunsten der umweltschädlicheren Transportarten.

Im Zwischenbericht mit dem Titel “für ein mobiles Europa” zeichnet sich eben doch ein Kurswechsel in der EU-Verlagerungspolitik ab: Sie wird in der Fläche aufgegeben und auf einige wenige Regionen konzentriert. Im Originalton: “Die Verlagerung auf umweltfreundlichere Verkehrsträger muss realisiert werden, soweit dies möglich ist, vor allem bei längeren Strecken, in Ballungsgebieten und in überlasteten Korridoren.” Zu letzteren zählt Brüssel auch die Transitachsen durch Berggebiete.

Alpen sind nicht Flachland

Da die Schweiz den Gütertransport durch die Alpen auf die Schiene verlagern will, ist sie vom Brüsseler Kurswechsel nicht betroffen. Bundesrat Moritz Leuenberger hatte dies bereits am Dienstag im Schweizer Parlament betont: Die EU anerkenne weiterhin, so der Verkehrsminister, dass in der Schweiz “aus Kapazitätsgründen, weil wir Engpässe durch die Alpen haben, eine ganz andere Betrachtungsweise erforderlich ist als in der Fläche”.

Auch Markus Liechti, ein schweizerischer Experte beim Europäischen Verband für Verkehr und Umwelt erwartet vom Bericht der EU-Kommission “keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Schweizer Verkehrspolitik”.

Der Bericht zeige allerdings, dass von der EU gegenwärtig keine grosse Unterstützung zu erwarten sei. “Die Schweiz sollte deshalb die Möglichkeiten des Landverkehrsabkommens mit der EU vollständig ausnützen”, findet Liechti.

Alpentransitbörse: Übergangslösung

Immerhin wird Verkehrsminister Leuenberger im Bericht gute Argumente finden, um genau dies zu tun. So sind für die EU-Kommission ökologisch ausgestaltete Schwerverkehrsabgaben ein Rezept für die “unter Umweltaspekten empfindlichen Gebiete” in Bergregionen.

Der Bericht greift auch die schweizerische Idee einer Alpentransitbörse auf. Sie könnte eine Übergangslösung sein bis die neuen Bahntransversalen am Brenner und zwischen Lyon und Turin gebaut seien, erklärte Barrot.

In der Zwischenzeit freut sich Barrot übrigens über die weiter fortgeschrittene NEAT: “Zum Glück stellt die Schweiz ja bald den Lötschberg zur Verfügung, und auch beim Gotthard ist man schon weit”, sagte er.

swissinfo Simon Thönen, Brüssel

Ein Ziel der Schweizer Verkehrspolitik ist die Verlagerung des Alpenquerenden Warenverkehrs von der Strasse auf die Schiene.

Der seit 1994 in der Bundesverfassung verankerte Alpenschutzartikel verlangt eine Verlagerung innerhalb von 10 Jahren. Dieses Ziel ist immer noch in weiter Ferne.

Das Verkehrsverlagerungsgesetz aus dem Jahr 1999 verlangt eine Halbierung der Lastwagenfahrten durch die Alpen auf 650’000 Fahrten im Jahr 2009. Diese Frist soll auf das Jahr 2018 verschoben werden.

Bis dann sollen der Lötschberg (2007) und der Gotthard Eisenbahn-Basistunnel (2016) eröffnet sein.

Die Alpentransitbörse sieht die mengenmässige Begrenzung von käuflichen Transitrechten vor.

Erwartete Zunahme des Verkehrs 2000-2020 in der EU:

Güterverkehr total: 50 %
Strassengüterverkehr: 55 %
Schienengüterverkehr: 13 %
Binnenschifffahrt: 28 %
Personenverkehr total: 35 %
Auto: 36%
Schienenpersonenverkehr: 19 %
Luftverkehr: 108%
Zum Vergleich:
Bruttoinlandprodukt: + 52%

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