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100 Tage Präsident Obama: Der Härtetest kommt erst

US-Präsident Barack Obamas hat auch bei seinen Auftritten in der Öffentlichkeit einen guten Start hingelegt. Keystone

Nach seinen ersten 100 Tagen im Amt ist US-Präsident Barack Obama nach eigenen Worten "stolz auf das Erreichte, aber noch nicht zufrieden". Der Schweizer Professor Jürg Siegenthaler, der seit 1967 in den USA lebt, attestiert Obama einen guten Start.

Jürg Siegenthaler, Professor für Sozialpolitische Analysen, der in Maryland lebt, hat mit swissinfo über die ersten 100 Tage des neuen Präsidenten gesprochen. Als grösste Herausforderung für Obama bezeichnet er die Wirtschaftskrise, die immer mehr Menschen direkt betrifft.

swissinfo: Präsident Barack Obama ist begleitet von grossen Erwartungen aus der ganzen Welt ins Weisse Haus eingezogen. Wie fällt aus Ihrer Sicht die Bilanz der ersten 100 Tage aus?

Jürg Siegenthaler: Es ist enorm viel passiert. Barack Obama hat aussenpolitisch – zum Beispiel mit Irak – und innenpolitisch Weichen gestellt und ist damit Wahlkampf-Versprechen nachgekommen. Ich denke, er hat einen guten Start hingelegt. Er wusste den Spielraum, den er hat, zu nutzen.

Die Herausforderungen sind aber enorm. Erst in den kommenden Monaten wird sich zeigen, wie sich die Dinge entwickeln werden. 100 Tage sind eine kurze Zeit, kritisch werden die nächsten Monate sein. Besonders gespannt verfolge ich persönlich, was sich im Bereich der Reformen im Sozialversicherungs-Wesen abspielen wird.

Die Entwicklung hängt natürlich nicht allein vom Präsidenten ab, auch der Kongress und nicht zuletzt das internationale Umfeld werden eine grosse Rolle spielen bei Fragen wie Irak und Afghanistan etwa, vor allem aber auch bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise.

swissinfo: Was halten Sie von der Kritik, Obama habe zu viele Projekte aufgegleist?

J. S.: Das sehe ich nicht so. Er hat grosse Ziele und dort Akzente gesetzt, wo es seiner Ansicht nach nötig war. Ich denke, er hat vor allem deutlich gemacht, dass er ein Pragmatiker ist, was sich ja schon im Wahlkampf abgezeichnet hatte. Seine Lösungsansätze sind in einigen Bereichen weniger radikal, als teilweise erwartet wurde.

Gewisse progressive Wähler hat er wahrscheinlich teilweise etwas enttäuscht, während konservative Wähler sich teilweise schockiert zeigen und ihm vorwerfen, er wolle Amerika zum Sozialismus führen.

swissinfo: Was ist aus Ihrer Sicht Obamas bisher grösster Erfolg?

J. S.: Dass der Kongress den Budgetplan in Höhe von 3,4 Bio. Dollar verabschiedet hat. Das ist erstaunlich, ich hatte nicht erwartet, dass das so rasch gehen würde. Um Haushalts-Entwürfe der Präsidenten wird im US-Kongress immer hart gerungen.

Obama hofft, mit Hilfe dieses Budgets die Wirtschaftskrise bewältigen zu können. Prioritäten im Budget sind Investitionen in grüne Energie, das Bildungswesen und eine Reform des Gesundheitswesens.

swissinfo: Was sehen Sie als grösste Herausforderung, vor der Obama steht?

J. S.: Ohne Zweifel die Wirtschaftslage. Wenn das Wachstum im nächsten Quartal nochmals schrumpft, die Arbeitslosigkeit noch weiter steigt und das Land in einer tiefen Rezession stecken bleibt, wird Obamas Popularität Schaden erleiden.

Wenn das Konjunkturpaket bis zum Herbst keine konkreten Erfolge nach sich zieht, wird er kaum weiter auf so grosse Unterstützung in der Bevölkerung zählen können.

swissinfo: Und was ist Obamas grösste Schwäche?

J. S.: Wahrscheinlich seine Neigung, vielleicht etwas zu rasch auf Kompromisse zu setzen. Am Anfang eines Prozesses könnte er durchaus manchmal eine etwas härtere Gangart anschlagen.

swissinfo: Und seine grösste Stärke?

J. S.: Seine Persönlichkeit, sein Stil im Umgang mit “Freunden und Feinden”, sein Auftreten. Die Ausstrahlung der ganzen Familie Obama sorgt für

Unterstützung in breiten Kreisen der Bevölkerung und verhilft dem Präsidenten zu politischem Kapital, das er bisher gut zu nutzen wusste.

swissinfo: Die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA sind in den Schlagzeilen geprägt vom Streit über mutmassliche Steuerhinterziehungen. Sind Sie überrascht, wie aggressiv die neue Administration vorgeht?

J. S.: Nein. Bestrebungen der USA, gegen Steueroasen vorzugehen, gibt es ja schon länger. Die Wirtschaftskrise hat dem Ganzen nun zusätzlich Auftrieb gegeben und die Schweiz steht nun im Visier der EU und der USA.

Dass die Schweiz im internationalen Diskurs derart lange auf dem Standpunkt verharrte, das Bankgeheimnis sei nicht verhandelbar, war wahrscheinlich ein Fehler.

Ich hatte schon länger eine andere Strategie vermisst. Zeichen etwa, dass man bereit wäre, bessere Lösungen zu finden. Natürlich hätten die USA auch gegen andere Finanzplätze vorgehen können, so die Cayman-Inseln. Und dass die OECD mit ihrer Liste in der Schweiz für Ärger sorgt, ist verständlich.

swissinfo: Denken Sie, dass der Steuerstreit sich negativ auf andere Bereiche in den Beziehungen zwischen den zwei Staaten auswirken könnte?

J. S.: Nein, man sollte das nicht dramatisieren. Die Steuerfrage ist ein Aspekt einer facettenreichen Beziehung, die seit langen Jahren eng und traditionell gut ist. Das wird sich auch unter der Regierung Obama fortsetzen.

swissinfo, Rita Emch, New York

Präsident Obama hat in den ersten drei Monaten im Weissen Haus einen fulminanten Start hingelegt.

Obschon noch kaum konkrete Resultate seiner Reformvorhaben vorliegen, kann Obama bisher auf Unterstützung der Bevölkerung zählen.

Etwa zwei Drittel sind laut Umfragen mit seiner Amtsführung generell zufrieden. Die wirklichen politischen Prüfsteine liegen allerdings noch in der Zukunft.

Seit Januar hat Obama mehr Reformen auf den Weg gebracht als viele seiner Vorgänger in ihrer ganzen Amtszeit. Unter Obama bewegen sich die USA international und national in eine neue Richtung.

Erste Weichen sind gestellt, aussenpolitisch zum Beispiel was Irak, Iran und Kuba angeht, gegen innen bei den Plänen für Reformen im Gesundheitswesen, bei der Bildung oder bei Energie und Umwelt.

Auf seinen Reisen nach Lateinamerika, Europa und in die Türkei hat er in erster Linie um Goodwill geworben und der Welt dabei ein neues Gesicht der Supermacht USA präsentiert.

Jürg Siegenthaler lebt seit 1967 in den USA.

Er hat an der Universität Bern Wirtschaftswissenschaften studiert, danach war er Professor für Sozialpolitische Analysen an der American University in Washington, DC.

Zu seinen Lehr- und Forschungstätigkeiten gehörten auch Wirtschaftsgeschichte, Sozialtheorie und Forschungsmethoden.

Siegenthaler ist assoziiert mit dem Institute for Socio-Financial Studies (ISFS), einer nicht-profitorientierten Organisation, die sich unter anderem dafür einsetzt, die Finanzkenntnisse von Gemeinden, Vereinen und anderen Organisationen zu stärken.

Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau Linda in Silver Spring, Maryland, in der Nähe von Washington, DC.

Die USA sind der wichtigste Handelspartner der Schweiz ausserhalb Europas.

Die Schweizer Exporte beliefen sich 2007 auf 18,32 Mrd. Fr., die US-Importe auf 9,43 Mrd. Fr.

Die USA sind die Hauptdestination für Schweizer Direkt-Investitionen.

2006 haben die beiden Länder ein Kooperationsforum für Handel und Investitionen geschaffen.

Ende 2007 waren 73’978 Schweizer Staatsangehörige in den USA registriert, darunter 52’415 Doppelbürgerinnen und Doppelbürger.

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