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Delikates Gleichgewicht zwischen Politik und Business

Nicolas Hayoz

Der russische Präsident Medwedew besucht vom 21. bis 23. September die Schweiz. Aus diesem Anlass zieht Professor Nicolas Hayoz im Gespräch mit swissinfo.ch eine Bilanz zu den bilateralen, zuletzt nicht ungetrübten Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz.

Der Flugzeugabsturz von Überlingen, die Anerkennung des Kosovo durch die Schweiz, die blockierten Yukos-Gelder und der Fall um den ehemaligen russischen Minister Adamov: In den letzten Jahren mangelte es nicht an Reibungspunkten zwischen der Russischen Föderation und der Eidgenossenschaft.

Doch im Jahr 2007 kam es zu einem Umschwung. Jedenfalls wurde die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in Moskau herzlich empfangen. Jetzt kommt der russische Präsident Dimitri Medwedew auf Besuch in die Schweiz. Seit diesem Jahr vertritt die Schweiz zudem die Interessen Moskaus in Georgien.

Wie steht es also um die russisch-schweizerischen Beziehungen? swissinfo.ch hat mit Nicolas Hayoz, dem Direktor des Interfakultären Instituts für Ost- und Ostmitteleuropa an der Universität Freiburg, gesprochen.

swissinfo.ch: Welche Bedeutung kommt dem Besuchs Medwedews in der Schweiz im Lichte der bilateralen Beziehungen zu?

Nicolas Hayoz: Es gab eine Reihe von Ereignissen, die zu Missverständnissen zwischen den beiden Ländern geführt haben. Doch das ist inzwischen Vergangenheit. Im Moment lassen sich die Beziehungen als sehr gut bezeichnen.

Den Besuch Medwedews sollte man jedoch nicht überbewerten. Ihm kommt eine wirtschaftliche, aber auch eine ganz praktische Bedeutung zu. So geht es etwa um die diplomatische Rolle der Eidgenossenschaft im russisch-georgischen Konflikt, ausserdem um die bilaterale Kooperation, die auch Visa-Fragen beinhalten wird.

Am wichtigsten sind jedoch die Wirtschaftsbeziehungen. Russland ist ständig auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten. Zudem muss das Land unbedingt ausländisches Kapital anziehen. Dazu kommt, dass die russische Wirtschaft veraltet ist und Spitzentechnologie braucht. Diese kann von Staaten wie der Schweiz geliefert werden.

Auch für die Eidgenossenschaft geht es um viel: Russland ist mit fast drei Milliarden Franken im Jahr 2008 ein sehr wichtiger Exportmarkt. Und viele russische Unternehmer sind in der Schweiz aktiv.

swissinfo.ch: Russland wird häufig in Bezug auf die Meinungs- und Pressefreiheit kritisiert. Man denke nur an die Ermordung der Journalistinnen Anna Politkovskaia und Natalia Estemirova. Welche Haltung nimmt die Schweiz ein?

N.H.: Meiner Meinung nach ist die Schweiz zu vorsichtig. Länder wie Deutschland äussern sich zu diesem Thema viel klarer. Kein Schweizer Minister wird die gleichen Worte wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verwenden, welche den Vorfall der Ermordung Estermirovas “inakzeptabel” nannte und Russland aufforderte, für die Einhaltung der Menschenrechte zu sorgen.

Sicherlich ist Deutschland ein viel grösseres Land, während sich die Schweiz immer hinter dem Gewand der Neutralität versteckt. Die Eidgenossenschaft muss eine Verurteilung Russland zudem mit der eigenen Rolle als Repräsentant Russlands in Georgien in Einklang bringen.

Persönlich habe ich den Eindruck, dass die Schweiz den wirtschaftlichen Aspekte gegenüber den politischen Aspekten zu viel Gewicht einräumt. Die Schweiz hat offenbar Angst, die eigenen Interessen zu gefàhrden. Doch eine übertriebene Vorsicht kann manchmal ein schlechter Ratgeber sein.

swissinfo.ch: Hat das Image der Schweiz in Russland in Folge der erwähnten Spannungen zwischen den beiden Ländern gelitten?

N.H.: Das hängt sehr stark vom Wissen um die Schweiz ab. So wird der Familienvater, der den für die Flugzeugkollision von Überlingen verantwortlich gemachten Skyguide-Fluglotsen erstach, von vielen Menschen in Russland als Held gefeiert.

Ganz allgemein muss man festhalten, dass viele Russen – vor allem in den abgelegenen Gebieten des Landes – die Schweiz kaum kennen. Sie vergessen häufig, dass die Schweiz ein Rechtsstaat ist, in welchem genau vorgeschriebene Rechtswege eingehalten werden.

Bei der russischen Elite ist der Ruf der Schweiz hingegen sehr gut und mit Sicherheit besser als in anderen Ländern. Es gibt auch immer mehr Russen, welche die Schweiz als Touristen besuchen.

swissinfo.ch: Was schätzt man in Russland am meisten an der Schweiz?

N.H.: Es wird geschätzt, dass die Schweiz nicht Mitglied der EU und der NATO ist und deren Positionen nicht notwendigerweise teilt. Generell gefällt die von Vorsicht geprägte Einstellung der Schweiz. Meiner Meinung nach stützt sich Russland auf die Schweiz, um die eigenen Interessen auf dem internationalen Parkett besser zu verteidigen.

Auch wenn die Schweiz keine Grossmacht ist, kennt Moskau die Effizienz der diskreten Schweizer Diplomatie. Umgekehrt kann Bern seine Position als Mediator in Bezug auf Sicherheitspolitik und Militärfragen stärken.

swissinfo.ch: Die Schweizer Botschafterin Heidi Tagliavini hat von der EU den Auftrag erhalten, einen Bericht über die Ursachen des Kaukasuskonflikts zu erstellten. Welche neuen Entwicklungen erwarten Sie?

N.H.: Sehr wahrscheinlich wird dieser Rapport keine vollkommen neuen Tatsachen beinhalten. Wahrscheinlich wird dieser Bericht betonen, dass alle Parteien in diesem Konfliktfall in gleichem Masse Verantwortung tragen.

Positiv ist aber, dass die Schweiz zu einem neuen Vehikel der Kommunikation und Reflexion beiträgt. Der Rapport wird einen marginalen, aber gleichwohl nützlichen Beitrag zum Konflikt leisten.

Die Situation in der Region dürfte sich kaum ändern. Die USA und die EU vertreten keine klare Position in Bezug auf Georgien, beispielsweise in der Frage einer Mitgliedschaft Georgiens in der Nato. Einerseits wird Russland verurteilt. Anderseits werden die wichtigen Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere als Energielieferant, betont. Diese Haltung ist auch für die Schweiz typisch.

Andrea Clementi, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Schweizer Staatsangehörige in Russland: 701 (2008)
Schweizer Exporte nach Russland: 2,919 Mrd. Franken
Schweizer Importe aus Russland: 1,551 Mrd. Franken

Seit 1998 ist er Professor für Politikwissenschaften an der Universität Freiburg. Dort leitet er zudem das Interfakultäre Institut für Ost- und Ostmitteleuropa.

Während seiner akademischen Karriere hielt sich Hayoz zu Studienzwecken in Moskau, St. Petersburg, Tbilisi, Budapest und Deutschland auf.

Er ist zudem verantwortlich für die Studienprogramme der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) auf dem Balkan und in der Kaukasus-Region.

Bereits im 18. Jahrhundert gibt es intensive Kontakte zwischen den beiden Ländern. Russische Schriftsteller, Künstler und Gelehrte besuchen die Schweiz, während Schweizer Bürger nach Russsland emigrieren. Insbesondere im Bereich der Architektur hinterlassen einige Schweizer Emigranten ihre Spuren.

Im 19. Jahrhundert gehört Russland zu den Grossmächten, welche die Schweizer Neutralität garantieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts halten sich etliche Künstler, Studenten und russische Dissidenten in der Schweiz auf, darunter Lenin. Im Zusammenhang mit den Revolutionswirren werden die diplomatischen Beziehungen 1923 abgebrochen und erst 1946 wieder aufgenommen.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs haben sich die Beziehungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur schnell intensiviert.

Für die Schweiz ist Russland zu einem wichtigen Handelspartner geworden. Die Schweiz gehört zu den grössten ausländischen Investoren in der Russischen Föderation.

Russland ist das einzige ständige Mitglied des UNO-Sicherheitsrats, mit dem die Schweiz jedes Jahr gegenseitige diplomatischer Besuche auf Ministerebene durchführt.

Zudem gibt es laufend Gespräche zu den Themenbereichen Menschenrechte, Sicherheit und Abrüstung.

Seit 10 Jahren leistet die Schweiz technische und finanzielle Unterstützung sowie humanitäre Hilfe, insbesondere im Nordkaukasus.

Die Schweiz vertritt seit 2009 die diplomatischen Interessen Moskaus in Georgien und umgekehrt die Interessen Georgiens in Russland.

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